Ärzte verordnen Kindern in Deutschland immer häufiger Psychopharmaka. Es liegt jedoch nicht an überaktiven Eltern. Ärzte verschreiben etlichen kleinen Patienten, die bereits eine Therapie bekommen haben, in den folgenden Jahren erneut Medikamente.
„Immer mehr Psychopillen für Kinder“, berichtete die Barmer GEK schon 2013 im „Arzneimittelreport“. Das Thema hat nicht an Relevanz verloren, wie Dr. Sascha Abbas und Dr. Ingrid Schubert herausfanden. Sie forschen an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universität zu Köln. Basis ihrer Studie sind fünf Millionen Versorgungsdaten der AOK und der TK von Kindern bis zum 17. Lebensjahr.
Die Verordnungsprävalenz stieg von 19,6 (2004) auf 27,1 (2012) pro 1.000 Kinder. Unterschiede zeigen sich bei den Wirkstoffgruppen. Wie Abbas herausfand, gab es bei Antidepressiva kaum Änderungen. Wesentlich häufiger rezeptierten Ärzte Antipsychotika (2,3 versus 3,1 Promille) und Stimulanzien (10,5 versus 19,1 Promille).
Speziell zu Methylphenidat stehen neuere Daten des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zur Verfügung. Im Jahr 2012 erwarben Apotheken 1.839 Kilogramm des Pharmakons in Form von Fertigarzneimitteln. Mittlerweile entwickelt sich der Trend leicht rückläufig. Hier unterscheiden Forscher allerdings nicht zwischen Kindern und Erwachsenen. „Der erneute Rückgang zeigt, dass wir mit den geänderten Anwendungsbedingungen für Methylphenidat auf dem richtigen Weg sind“, erklärte BfArM-Präsident Professor Dr. Karl Broich. „Der Umgang mit Methylphenidat braucht aber auch weiterhin besonderes Augenmaß, damit Patientinnen und Patienten von einer gezielten Therapie profitieren und zugleich vor unkritischer Überversorgung geschützt werden.“ Broichs Wunsch scheint sich mit der Studie erfüllt zu haben. Erstverordnungen kommen häufiger als im Vergleichszeitraum von Neurologen oder Psychiatern. Gleichermaßen sank der Prozentsatz an Kinderärzten bei der Erstverordnung.
Noch ein Blick speziell auf Antidepressiva. Laut Andrea Cipriani, Oxford, zeigen etliche dieser Pharmaka bei Kindern keinen Effekt. Im Rahmen einer Metaanalyse hat der Forscher zusammen mit Kollegen 34 Studien mit 5.260 Teilnehmern ausgewertet. Lediglich Fluoxetin wirkte bei depressiven Symptomen besser als Placebo. Dem standen leichte bis schwerwiegende unerwünschte Effekte gegenüber. Duloxetin, Imipramin und Venlafaxin wurden von kleinen Patienten schlecht vertragen. Bei Venlafaxin kam es sogar zu Suizidgedanken. Cipriani sagt zu möglichen Schwächen seiner Arbeit: „Ohne Zugriff auf Individualdaten ist es schwierig, genaue Angaben über die Wirkung zu machen.“ Hunderttausende Menschen hätten weltweit an Studien teilgenommen, mit dem Ziel, Therapien zu verbessern. „Wir müssen die Privatsphäre unserer Patienten durch Regelungen und Techniken schützen“, ergänzt der Autor und moniert gleichzeitig: „Verzögerungen bei der Umsetzung solcher Maßnahmen zum Austausch von Daten haben negative Folgen für die Forschung, aber auch für Patienten.“ Jon Jureidini aus Adelaide schreibt im Kommentar, dies sei bewusst geschehen, um negative Ereignisse zu verschleiern. Bestes Beispiel ist die 2001 veröffentlichte und 2015 neu ausgewertete „Study 329“ von SmithKline Beecham, heute GlaxoSmithKline. Dabei zeigte sich nicht nur, dass Paroxetin oder Imipramin bei Jugendlichen keinen Benefit gegenüber Placebo zeigen. Vielmehr kam es unter Verum zu zahlreichen Nebenwirkungen, Selbstmord-Gedanken inklusive. Trotzdem haben Ärzte, wie Sascha Abbas herausfand, Präparate aus dieser Wirkstoffgruppe genauso oft verschrieben wie im Vergleichszeitraum. Antipsychotika und Stimulanzien schnellten sogar nach oben.
Doch wie lässt sich dieser Trend erklären? In der Literatur finden sich keine Hinweise, dass psychische Störungen hier zu Lande zunehmen würden. Forscher verglichen die KiGGS-Basiserhebung (2003–2006) mit der „KiGGS-Welle eins“ (2009–2012). Sie fanden keine statistisch signifikanten Veränderungen der Diagnosehäufigkeit für ADHS. Auch bei sonstigen psychischen Auffälligkeiten ließen sich keine nennenswerten Trends identifizieren. „Die Zunahme der Psychopharmaka-Prävalenzen scheint weniger auf der Anzahl an neu pharmakologisch therapierten Kindern und Jugendlichen zu beruhen, sondern dadurch bedingt zu sein, dass mehr Patienten, die bereits einmal eine Therapie bekommen hatten, in den folgenden Jahren erneut eine Psychopharmaka-Therapie erhielten“, schreibt Sascha Abbas. Von Ärzten fordert er, eine zunehmende Belastung bei Kindern und Jugendlichen frühzeitig zu erkennen und mit sozialen, pädagogischen oder strukturellen Maßnahmen zu intervenieren. „Sonst entsteht die Gefahr, soziale und gesellschaftliche Probleme mit Medikamenten lösen zu wollen.“
In diesem Zusammenhang spielt womöglich auch die Werbung bei Fachkreisen eine große Rolle. Laut BARMER GEK Arzneimittelreport 2013 ließen sich steigende Verordnungszahlen von Antipsychotika bei Kindern und Jugendlichen vor allem auf neuere Präparate zurückführen. Alte Arzneistoffe entwickelten sich sogar leicht rückläufig.