Nach einem Verkehrsunfall wird ein bewusstloser 29-jähriger Motorradfahrer vom Rettungsdienst in die Notaufnahme gebracht. Der Patient ist polytraumatisiert. Die Ärzte sind unter Zeitrdruck, denn sie müssen die letal dringlichste Verletzung finden. Er befindet sich im Schock, der Blutdruck beträgt 98/50 mmHg und die Herzfrequenz 120/min. Er hat schwere Bewusstseinstörungen: Beim Glasgow Coma Score (GCS) erreicht er gerade einmal 5 von 15 maximalen Punkten.
Nichts Auffälliges auf den Röntgenaufnahmen
Bei der Traumauntersuchung fallen links ein abgeschwächtes Atemgeräusch und ein instabiler Thorax sowie eine starke Schwellung des linken unteren Beins mit fehlendem Fußpuls auf. Die Anlage einer Thoraxdrainage führt nur zu einer kurzfristigen Stabilisierung der Vitalparameter.
Blutungen in Bauchraum und Becken werden per FAST-Sonographie ausgeschlossen. Röntgenaufnahmen des linken Beins zeigen keine Auffälligkeiten. Trotzdem verschlechtert sich der Zustand des Patienten zunehmend. Der linke Unterschenkel weist Zeichen eines Kompartmentsyndroms auf. Ist ein steigender Gewebedruck also die Ursache für den fehlenden Puls der Extremität?
Im OP fündig geworden
Im OP führen die Ärzte zur Entlastung eine Fasziotomie durch. Nach wie vor ist distal des Knies kein Puls tastbar, daher erstellen sie intraoperativ ein arterielles Angiogramm. Hier wird eine massive extraluminale Extravasation des Kontrastmittels im Bereich der Arteria poplitea sichtbar. Distal des Knies stellt das Kontrastmittel keine Arterien dar – die Blutungsquelle ist somit gefunden: Der Unfall hatte einen kompletten Abriss der Arterie zufolge, ohne knöcherne Strukturen zu verletzen, die im Röntgenbild aufgefallen wären.
Die Ärzte stoppen die Blutung und verbinden eine oberflächliche Arterie des Oberschenkels mit dem distalen Teil der Arteria poplitea. Daraufhin verbessert sich der Zustand des Patienten zunehmend, die Fußpulse sind wieder tastbar. Obwohl der Patient zusätzlich ein Schädel-Hirn-Trauma, bilateralen Hämothorax und eine Wirbelsäulenverletzung erlitten hatte, kann er bereits 20 Tage nach dem Unfall in die Reha entlassen werden.
Quelle:
A unique case of popliteal artery transection after a motorcycle collision.
Eric J. Weiner et al., Journal of Surgical Case Reports, doi: 10.1093/jscr/rjx222; 2017