Ein Mann unterzieht sich beim Zahnarzt einer Wurzelkanalbehandlung mit Lokalanästhesie. Nach der Behandlung kann er nicht mehr selbständig aufstehen und nicht mehr sprechen. Im Krankenhaus fällt auf: Der Patient kann sich plötzlich an keine Ereignisse erinnern, die länger als zehn Minuten zurückliegen.
Ein 38-jähriger Mann unterzieht sich beim Zahnarzt einer Wurzelkanalbehandlung. Der Eingriff wird unter Lokalanästhesie durchgeführt und dauert rund eine Stunde. Nach Abschluss der Behandlung kann der Patient nicht mehr selbstständig aufstehen, ist blass und spricht undeutlich. Der Zahnarzt vermutet zunächst eine vasovagale Synkope. Nachdem sich sein Zustand nicht verbessert, ruft der Zahnarzt den Notarzt.
Hirnschäden ausgeschlossen
Im Krankenhaus fällt den Ärzten auf, dass das Kurzzeitgedächtnis ihres Patienten stark eingeschränkt ist: Der Mann kann sich an keine Ereignisse mehr erinnern, die länger als zehn Minuten zurückliegen. Die Ärzte vermuten eine Reaktion auf das Lokalanästhetikum und eine damit einhergehende Hirnschädigung. Sie führen ein EEG und Hirnscans (CT, MRT, und SPECT) durch, können aber keine organische Ursache für seine Amnesie feststellen.
Eine Besserung stellt sich auch nach Monaten nicht ein. Seit dem Tag der Wurzelbehandlung im Jahr 2005 kann sich der Patient an nichts mehr erinnern, was länger als 90 Minuten zurückliegt. Morgens wacht er auf und denkt, heute müsse er zum Zahnarzt. Seiner eigenen Identität ist er sich bewusst und er erkennt seine Familie und Freunde, erwartet aber, jeder sei so alt, wie am Tag seines Zahnarzttermins.
Obwohl der Patient bei den behandelnden Ärzten schon zahlreiche Termine wahrgenommen hat, müssen sie sich stets neu vorstellen. Dauert ein Termin länger als 90 Minuten, verliert er vollständig die Orts- und Zeitorientierung.
Nur an zwei neue Ereignisse kann er sich seither erinnern: Den Tod des eigenen Vaters wenige Tage nach Beginn der Amnesie und an die Geburt eines Kindes einer befreundeten Familie.
Untypische anterograden Amnesie
Die Symptome des Patienten ähneln am ehesten denen einer anterograden Amnesie. Die Ursachen sind normalerweise der Ausfall des wesentlichen Neuronenkreises im limbischen System oder der Untergang der Neuronen im Nucleus basalis Meynert. Beides lässt sich bei dem Patienten allerdings nicht nachweisen.
Untypisch ist auch, dass sich der Patient keine neuen Bewegungsabläufe oder andere implizite Tätigkeiten merken kann. Auch die Zeitspanne von 90 Minuten, in denen sich der Mann an neue Informationen erinnert, ist länger als bei anderen Betroffenen. Üblicherweise beträgt die Zeit nur wenige Minuten, bevor Patienten mit anterograder Amnesie alles wieder vergessen.
In der Literatur sind bisher nur wenige solcher Fälle beschrieben. Die Ärzte können sich bis heute nicht erklären, was die Amnesie des Patienten verursacht hat. Einen Zusammenhang mit dem Zahnarztbesuch können sie zwar nicht ausschließen, halten es aber für unwahrscheinlich. Sie spekulieren, dass bei ihrem Patienten ein Fehler in der mRNA-Synthese der Proteine vorliegt, die für den Umbau der Synapsen im Gehirn zuständig sind. Diese werden für die Speicherung der Erinnerungen im Langzeitgedächtnis gebraucht.
Laut seiner Familie, kann der Patient trotz der massiven Einschränkungen, den Alltag gut bewältigen. Mithilfe eines elektronischen Tagebuchs, in das seine Frau regelmäßig wichtige Fakten und Ereignisse einträgt, hält er sich auf dem neuesten Stand. Obwohl er täglich von Neuem über seine Gedächtnisstörung aufgeklärt wird, ist seine psychische Verfassung gut, wie seine behandelnden Ärzte mitteilen.
Quelle:
Profound anterograde amnesia following routine anesthetic and dental procedure: a new classification of amnesia characterized by intermediate-to-late-stage consolidation failure?
GH Burgess & B Chadalavada, Neurocase, doi: 10.1080/13554794.2015.1046885; 2015
Artikel von Anke Hörster