Ein dreijähriges Mädchen verweigert immer wieder ihr Essen. Sie ist dabei frustriert und jammert – eine typische Trotzreaktion, vermuten die Eltern. Bald häuft sich das seltsame Verhalten. Das Kind presst stundenlang ihre Zähne aufeinander. Die Ärzte-Odysee beginnt.
Ein dreijähriges Mädchen kratzt sich immer wieder am Kinn, an der Nase und an der Stirn. Einige Tage später weigert sich das Mädchen, zu essen – eine für das Alter ganz normale Trotzreaktion ihrer Tochter, denken die Eltern. An den kommenden Tagen verweigert sie immer wieder für einige Stunden das Essen. Das Kind presst dabei den Mund fest zusammen und wirkt frustriert.
Bevor die Eltern mit ihr zum Arzt gehen, stellen sie Vermutungen an: Vielleicht sind es die Backenzähne, die langsam durchbrechen und ihr Schmerzen beim Kauen und Sprechen bereiten. Oder es ist ein harmloser Infekt, weswegen sie jammert und keinen Appetit hat.
Von Arzt zu Arzt zu Arzt
Die Eltern beobachten noch einige Tage lang das seltsame Verhalten ihres Kindes, bevor sie ihre Tochter bei verschiedenen Ärzten vorstellen. Ein Kinderarzt erklärt, das womöglich ein pschyologisches Problem vorliegt. Das Kind entschließe sich einfach manchmal dazu, nichts zu essen und nichts sagen zu wollen.
Der Zahnarzt spekuliert, dass sich das Kind mit dem Erreger der Hand-Fuß-Mund-Krankheit infiziert hat. Das könnte das Kratzen im Gesicht und die Appetitlosigkeit erklären. Eine genauere Untersuchung findet aber nicht statt, weil sich das Mädchen auch jetzt weigert, den Mund zu öffnen. Ein anderer Kinderarzt verschreibt lediglich ein Mundwasser gegen wunde Stellen.
Als das Mädchen am nächsten Tag etwas isst, presst es den Mund plötzlich wieder fest zusammen und kaut und schluckt nicht mehr. Aus Angst, sie könne sich an den Essenresten verschlucken, bringen die Eltern ihre Tochter sofort in die Notaufnahme.
Sie will, aber kann nicht
Die Ärzte ertasten eine stark angespannte Kaumuskulatur sowie unwillkürliche Muskelzuckungen über ihrem Kinn (siehe Faszikulation). Es stellt sich heraus, dass das Mädchen während dieser Episoden ihren Mund nicht willentlich zusammenpresst, sondern ihn gar nicht öffnen kann. Es scheint eine Kraniomandibuläre Dysfunktionvorzuliegen.
Nach der Gabe von Lorazepam verbessern sich die Symptome schnell. Doch nur einen Tag später treten sie erneut auf. Jetzt untersuchen die Ärzte das Kind genauer. CT- und MRT-Scans von Kopf und Nacken sind allerdings unauffällig, ebenso ein Elektroenzephalogrammund eine Spinalflüssigkeitsanalyse. Die Ärzte schließen eine autoimmune, infektiöse oder paraneoplastischeÄtiologie aus.
Der Neurologe weiß Bescheid
Während die Ärzte in der Notaufnahme noch rätseln, was die Ursache der Symptome sein könnte, bittet einer der Ärzte die Kollegen aus der pädiatrischen Neurologie um Rat. Aufgrund des bisherigen Befunds steht die Diagnose der Ärzte aus der Neurologie schnell fest: Das Kind leidet an oromandibulärer Dystonie.
Üblicherweise betrifft diese Erkrankung Menschen im mittleren Erwachsenenalter, oft wird sie zunächst falsch diagnostiziert. Die genaue Ursache für das Auftreten dieser Dystonie kann in vielen Fällen nicht gefunden werden. Zum klinischen Bild gehören die Verkrampfung der unteren Gesichtsmuskulatur sowie des Unterkiefers in unregelmäßigen wiederkehrenden Abständen. Die Beschwerden treten häufig später am Tag ohne besonderen äußeren Anlass auf. Ist die Schlundmuskulatur betroffen, besteht die Gefahr, Nahrungspartikel zu verschlucken.
Nach der Diagnosestellung wird das Mädchen für eine Woche stationär aufgenommen und mit Clobazam behandelt. Die Therapie ist erfolgreich und es treten keine erneuten Episoden mehr auf. Nach sechs Monaten wird die Dosis langsam reduziert und die Patientin hat keine Beschwerden mehr.
Quelle:The treatment of trismus with Ativan: a 3-year-old with difficulty opening her mouth.Finn E et al., BMJ Case Reports, doi: 10.1136/bcr-2018-225894; 2018
Artikel von Anke Hörster