Die Ärzte sind schockiert über den Zustand einer 15-jährigen Patientin. Sie muss sich ständig übergeben, ist extrem abgemagert und kraftlos. Weil das Mädchen Probleme im sozialen und schulischen Bereich hat, tippen sie zunächst auf ein psychisches Leiden.
Eine 15-Jährige stellt sich in einer Universitätsklinik vor, weil sie sich ständig übergeben muss. Ihr Erscheinungsbild schockiert die Ärzte: Die Schülerin ist extrem dünn und blass. Ihr BMI beträgt nur 13,5. Man fragt sich, wieso das Kind nicht längst wegen des Untergewichts in Behandlung ist?
Die Ärzte durchleuchten die Krankenakte der Patientin. Vor einem Jahr ist sie bereits wegen Bauchschmerzen beim Hausarzt vorstellig geworden. Dort erzählte das Mädchen von Problemen im sozialen und schulischen Bereich. Außerdem gab sie an, zu ihrem Vater kein gutes Verhältnis zu haben. Der Hausarzt diagnostizierte aufgrund der psychischen Verfassung des Mädchens Anorexia nervosa. Weiterführende Untersuchungen oder Behandlungsmaßnahmen wurden aber offenbar nicht eingeleitet.
Erst als sich die Bauchschmerzen vor wenigen Wochen verschlimmerten und sie zudem an Verstopfung und gelegentlichem Erbrechen litt, untersuchte der Hausarzt sie erneut. Ein Bluttest, ein Röntgen-Thorax und eine Abdomen-Sonographie blieben dabei aber unauffällig.
In der Klinik stellt sich beim Gespräch mit dem Mädchen heraus, dass sie im letzten Jahr insgesamt 10 kg Gewicht verloren hat. Das entspricht 25 Prozent ihres Körpergewichts. Bei der Frage nach der Familienanamnese erzählt das Mädchen, dass ihr Großvater vor fünf Jahren an einem Kolonkarzinom gestorben sei. Das lenkt den Verdacht der Ärzte in eine neue Richtung.
Bei einem erneuten Bluttest fällt schwere Hypalbuminämie (14 g/l) und Hypokalzämie (76 mg/l) auf. Röntgenaufnahmen des Abdomens zeigen vergrößerte Darmschlingen, die auf einen Darmverschluss hindeuteten. Ein Abdomen-CT gibt schließlich den entscheidenden Hinweis, woran das Mädchen wirklich leidet.
Das CT zeigt eine verdächtige Masse am Colon transversum. Eine Biopsie bestätigt den Verdacht der Ärzte. Sie finden ein 7,5 cm großes, gut differenziertes Lieberkühn-Adenokarzinom des Colon transversum, das in die gesamte Kolonwand eindringt und bis zum Peritoneum reicht. Metastasen können die Ärzte glücklicherweise nirgens nachweisen.
Kolonkarzinome sind bei jungen Menschen äußerst selten, treten aber im Zuge des Lynch-Syndroms häufig auf. Dabei handelt es sich um eine autosomal-dominant vererbte Erkrankung, die mit frühzeitig auftretenden, kolorektalen Karzinomen und gegebenenfalls weiteren Tumorerkrankungen einhergeht. Eine molekulargenetische Analyse bestätigt die Diagnose Lynch-Syndrom.
Die Patientin wird zunächst einen Monat lang unterstützend parenteral ernährt, damit sie wieder zu Kräften kommt. Anschließend folgt eine sechsmonatige Chemotherapie mit Fluorouracil und Oxaliplatin. Drei Jahre nach der Therapie befindet sich der Krebs in Remission.
Quelle:
Unusual case of anorexia.Darmaun L et al., BMJ Case Reports, doi: 10.1136/bcr-2017-223739; 2018
Artikel von Anke Hörster