Am 29. März 2019 verlässt Großbritannien die EU. Beide Seiten befassen sich derzeit mit außenpolitischen Sicherheitsaspekten, aber kaum mit dem Arzneimittelmarkt. Das könnte sich bitter rächen. Welche Folgen kommen vielleicht schon bald auf Ärzte und Apotheker zu? Ein Gedankenexperiment.
Im Mittelpunkt aller europaweiten Zulassungen steht die Europäische Arzneimittelagentur EMA in London. Sie wird ihren Sitz nach Amsterdam verlegen, die Planungen laufen auf Hochtouren. Laut Angaben der Behörde begann zum 1. Oktober die heiße Phase mit deutlich reduzierten Aktivitäten.
Welche Folgen hat der EMA-Umzug?
Ab sofort schränkt die EMA ihre „international activities“ deutlich ein. Zum Bereich zählen Anfragen von Health Professionals oder Aspekte der Arzneimittelsicherheit in der Lieferkette. Auch die Entwicklung oder Überarbeitung von Leitlinien werde auf ein Mindestmaß beschränkt, schreibt die Behörde. Sie rechnet eigenen Angaben zufolge damit, etwa 30 Prozent aller Angestellten zu verlieren. Das liegt nicht nur am Umzug, sondern auch an arbeitsrechtlichen Unterschieden zwischen Großbritannien und den Niederlanden. Verzögerungen bei neuen Zulassungsverfahren sind mehr als wahrscheinlich.
Verlieren Arzneimittel ihre Zulassung?
In den meisten Fällen haben Hersteller eine Zulassung bei der EMA beantragt. Regionale Zulassungen in Großbritannien sind selten, aber möglich. In diesem Fall müssten Firmen einen Standort innerhalb der künftigen EU haben und erneut die Mühlen der Bürokratie durchlaufen, am besten gleich bei der EMA.
Großbritannien steht vor ganz anderen Herausforderungen. Regionale Pharmaverbände haben schon vor einem Jahr David Davis und Michel Barnier kontaktiert. Beide sind für den Brexit zuständig. In dem Schreiben warnen sie vor Unsicherheiten: Was passiert, sollten Hersteller künftig von oder nach Großbritannien exportieren? Und gelten Zulassungen oder sonstige Beschlüsse in Zukunft noch für das Königreich? Müssen Firmen eine weitere Zulassung beantragen? Wie sieht es bei Personen mit Sachkunde (Qualified Persons) aus? Kollegen müssen nach aktuellem Recht in der EU arbeiten, falls Produkte für diesen Markt bestimmt sind. Antworten sucht man bislang vergebens.
Reagieren Hersteller zu spät?
Das Thema hat aber nicht nur politische Dimensionen. Im März stellte Prof. Dr. Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), klar: „Auch die pharmazeutische Industrie muss jetzt ihre Hausaufgaben machen.“ Genau haben laut EMA-Chef Guido Rasi etliche Firmen verschlafen. Gegenüber dem Handelsblatt berichtet der Experte, 108 Medikamente könnten nach dem Brexit nicht mehr zur Verfügung stehen, davon seien 88 aus der Humanmedizin. Er sei überrascht, wie viele der Pharmaunternehmen doch hoffen würden, dass sie sich nicht auf den Ernstfall vorbereiten müssen. Eine Nachfrage bei der Behörde, um welche Präparate es sich handelt, blieb unbeantwortet. Momentan wandern 45 Millionen Packungen von Großbritannien aus in die EU, und 37 Millionen werden quer über die Insel verteilt.
Verliert Großbritannien ausländische Fachkräfte?
Wenig überraschend gehen Apotheker schon jetzt von Bord. Das General Pharmaceutical Council (GPhC), in seinen Aufgaben mit deutschen Apothekerkammern vergleichbar, wollte wissen, wie EU-Fachkräfte auf die politische Situation reagieren. Eine Befragung hat ergeben, dass 80 % aller Apotheker planen, Großbritannien zu verlassen. Das hat nicht nur für EMA-Arbeiten oder für Hersteller verheerende Folgen. Exporteure oder Versandapotheker mit Kontakt zu anderen EU-Staaten werden die Expertise ihrer ausländischen Fachkräfte stark vermissen.
Sinken die Sicherheitsstandards?
Außerdem wirft der Brexit Fragen zum Sicherheitsstandard von Arzneimitteln auf. Deutschland setzt die Fälschungsschutzrichtlinie 2011/62/EU und die delegierte Verordnung (EU) Nr. 2016/161 mit securPharm um: Jede Packung eines Rx-Präparats wird per 2D-Code eindeutig gekennzeichnet, und über Datenbanken lassen sich Wege nachvollziehen. Ein Erstöffnungsschutz kommt mit hinzu. Großbritannien ist nicht mehr an EU-Vorgaben gebunden. Wer nach dem Ausscheiden aus der Union EU-Mitgliedsstaaten beliefern wird, ist gut beraten, Präparate ebenfalls gegen Plagiate zu schützen.
Alles halb so wild?
Gut möglich ist, dass zum Stichtag nichts Weltbewegendes bei der Arzneimittelversorgung passiert. Großbritanniens Innenminister Sajid Javid sagte im Gespräch mit der FAZ, er wolle über einen Sicherheitsvertrag weiterhin eng mit der EU zusammenarbeiten. „Am wichtigsten ist, dass wir weiter dieselben Instrumente nutzen, die wir jetzt auf EU-Ebene haben.“ Solche Übereinkünfte sind im Pharma-Bereich ebenfalls denkbar.