Patienten mit schwer kontrollierbarem Typ-2-Diabetes können operiert werden. Experten fordern jetzt, deutlich mehr Diabetiker mit der bariatrischen Chirurgie zu behandeln. Hierzulande bremsen industrienahe Fachgesellschaften neue Möglichkeiten aus.
Trotz größter Anstrengungen gelingt es Ärzten nicht immer, Stoffwechselerkrankungen zu kontrollieren. Deshalb raten Kollegen der International Diabetes Federation in ihrer Leitlinie bei schlecht einstellbarem Typ-2-Diabetes bereits ab BMI-Werten von 30 kg/m² zu bariatrischen Eingriffen. Als Begründung zitieren sie prospektiv randomisierte Studien.
Francesco Rubino. © King´s College London Professor Francesco Rubino vom Londoner King´s College teilt diese Sichtweise. Zusammen mit Experten des 2nd Diabetes Surgery Summit hat er in Diabetes Care neue Empfehlungen veröffentlicht. Rubino rät nicht nur bei einer Adipositas Grad III mit BMI-Werten über 40 kg/m² zur OP, sondern auch bei einer Adipositas vom Grad II (BMI 35,0 bis 39,9 kg/m²) mit unzureichender Kontrolle durch Medikamente. Sollte es Ärzten nicht gelingen, den Stoffwechsel bei Patienten mit BMI-Werten zwischen 30,0 und 34,9 kg/m² in den Griff zu bekommen, kann sich Rubino auch hier bariatrische Eingriffe vorstellen. Alle BMI-Werte sind bei asiatischen Patienten um 2,5 kg/m² zu reduzieren. Therapiealgorithmus nach Francesco Rubino. © Diabetes Care 2016 Jun; 39(6): 861-877 „Als jemand, der die Verbindung zwischen Magen-Darm-Chirurgie und Glukose-Homöostase seit den späten 1990er-Jahren untersucht, habe ich aus erster Hand erfahren, wie klinische Forscher lang gehegte Vorurteile über Bord geworfen haben“, schreibt Rubino in Nature. Er bewertet chirurgische Ansätze als die „radikalsten Veränderungen der Typ-2-Diabetes-Therapie seit fast einem Jahrhundert“. Eine klinische Studie, an der Francesco Rubino selbst beteiligt war, zeigt den Benefit: 60 Patienten zwischen 30 und 60 Jahren mit BMI-Werten ab 35 kg/m² hatten 1:1:1 randomisiert entweder eine leitliniengerechte Pharmakotherapie, einen Roux-en-Y-Magenbypass oder eine biliopankreatische Diversion erhalten. Nach fünf Jahren war es bei 50 Prozent aller Patienten in der OP-Gruppe zur vollständigen Remission des Typ 2-Diabetes gekommen, verglichen mit keiner Person in der Pharmakotherapie-Gruppe. Bei weiteren Patienten stabilisierte sich die Stoffwechsellage nach bariatrischen Eingriffen. „Chirurgische Methoden sollten bei der Behandlung von fettleibigen Patienten stärker berücksichtigt werden“, fordert Rubino deshalb.
Stefan R. Bornstein. Quelle: Wikipedia Professor Dr. Stefan R. Bornstein vom Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden, teilt diese Meinung. „Die Therapie des Typ-2-Diabetes basierte bisher – zusätzlich zu diätetischen Maßnahmen – auf der medikamentösen Behandlung", sagt der Experte. Trotz einer Vielzahl neuer Diabetes-Medikamente sei der therapeutische Erfolg meist „sehr begrenzt“. Für Bornstein steht der Erfolg bariatrischer Eingriffe bei Typ-2-Diabetes außer Frage. Mittlerweile gebe es „sehr robuste Daten“. Rund 85 Prozent aller Patienten seien übergewichtig oder adipös. „Zahlen belegen, dass von dieser Therapieoption bisher in Deutschland – im Gegensatz zu anderen Ländern – relativ wenig Gebrauch gemacht wird“, berichtet Bornstein.
Eine mögliche Erklärung liefert die „Nationale VersorgungsLeitlinie Typ-2-Diabetes: Therapie“. Im Dokument werden vor allem Pharmakotherapien genannt. Auch die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) äußert sich als zentrale Fachgesellschaft sehr zurückhaltend. „Derzeit sind der Magen-Bypass und die Sleeve-Gastrektomie sehr erfolgreiche Operationsmethoden: Untersuchungen zeigen, dass sich bei rund 70 Prozent der Patienten die Blutzuckerwerte normalisiert haben und Diabetes-Medikamente sogar abgesetzt werden konnten“, sagte DDG-Vizepräsident Professor Dr. Dirk Müller-Wieland letztes Jahr im Rahmen eines Kongresses. Derzeit kämen nur Patienten mit einem BMI von 35 kg/m² für Eingriffe infrage. „Sollten Menschen mit einem BMI zwischen 30 und 35 kg/m² ihren Diabetes medikamentös nicht in den Griff bekommen, könnten auch sie in Sonderfällen in Betracht kommen; dies ist aber Forschung, das heißt diese Patienten sollten in Studien eingeschlossen werden und es ist keine allgemeine Empfehlung“, schreibt die DDG in einer Mitteilung. „Denn Langzeiterfolge und Risiken sind bislang unzureichend geklärt und für andere Patientengruppen ist die Effizienz noch nicht erwiesen“, so Müller-Wieland weiter. Auch seien bislang die genauen Wirkmechanismen im Magen-Darm-Trakt unklar.
Aus den Statements von Stefan R. Bornstein und Dirk Müller-Wieland folgen zwei Aspekte: Deutschlands Ärzte halten sich, verglichen mit anderen Staaten, bei bariatrischen Eingriffen für Typ-2-Diabetiker sehr zurück. Außerdem ziehen sie wesentlich restriktivere Grenzen beim BMI, verglichen mit US-Kollegen. Hier könnte die Industrienähe der DDG eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Beispielsweise sprach sich DDG-Mitglied Professor Dr. Andreas F. H. Pfeiffer im Deutschen Ärzteblatt für neue orale Antidiabetika aus. „Liest man den Artikel mit diesem Blick, stellt man fest, dass von den Autoren subtil die Leitlinien verbogen werden (in Richtung der pharmafreundlichen DDG) und etablierte Medikamente, wie Metformin, mit denen sich kein Geld mehr verdienen lässt, madig gemacht werden“, schreibt MEZIS-Mitglied Niklas Schurig in einem Kommentar. Pfeiffers Selbstauskunft zu möglichen Interessenskonflikten liest sich wie eine Top-Ten-Liste der Pharmaindustrie: Novo Nordisk, Berlin Chemie, Novartis, Astra Zeneca/BMS, Sanofi, Lilly und Boehringer-Ingelheim. Kein Einzelfall: DDG-Vorstandsmitglied Müller-Wieland erwähnt im Rahmen wissenschaftlicher Publikationen AstraZeneca, Boehringer Ingelheim, BMS, Daichii Sankyo, Janssen-Cilag, Lilly, MetaCure, MSD, Novartis, Novo Nordisk, OmniaMed, Roche und Sanofi.