Essen, bis der Arzt kommt? Es steht noch schlimmer: Deutsche Hausärzte sehen sich weitgehend machtlos, wenn es darum geht, Patienten zu einer gesunden Ernährung zu bewegen. Gegen Disziplinlosigkeit und mangelnde Einsicht ist ihnen zufolge kein Kraut gewachsen, konsequente Schulungsprogramme braucht das Land. Dies ergibt eine aktuelle Befragung von DocCheck Research.
„100 von 100 Patienten“ könnten ihren Gesundheitszustand erheblich verbessern, wenn sie auf eine gesunde Ernährung achten würden. Angaben in diesem Umfang sind zwar plakative Einzelmeinungen – bringen jedoch gut die insgesamt hohe Frustration von Hausärzten in Deutschland bei diesem Thema zum Ausdruck. Tatsächlich liegt der Durchschnitt der Antworten bei 49 Prozent: Jeder zweite Patient könnte also aus Sicht der Ärzte gesundheitlich deutlich von einer gesünderen Ernährung profitieren. Jeder fünfte Arzt sieht das Potential sogar bei 75 Prozent und mehr seiner Patienten. Dies sind die Ergebnisse einer Befragung von DocCheck Research zu Gesundheit und Ernährung im Oktober 2018 unter 300 zufällig aus dem DocCheck Online Panel ausgewählten niedergelassenen Allgemeinmedizinern und Internisten ohne Schwerpunkt.
Die Esskultur der Deutschen gefährdet die Gesundheit
Die Hauptursachen, die einer gesunden Ernährung im Wege stehen, liegen den Ärzten zufolge nicht nur bei der mangelnden Disziplin, sei es, dass die Patienten zu viel essen, (47 Prozent), oder dass sie nicht die Disziplin haben, „das Richtige“ zu essen (46 Prozent). Laut 42 Prozent der Ärzte mangelt es vorwiegend am Verantwortungsbewusstsein für die eigene Gesundheit sowie der Esskultur im Familienalltag bzw. Wertschätzung gemeinsamer Mahlzeiten (35 Prozent). Zudem wissen viele Patienten den Ärzten zufolge überhaupt nicht, wie richtige Ernährung funktioniert: Fast jeder dritte Befragte sieht eine Hauptursache für die verbreitete Fehlernährung im mangelnden Wissen über die Zusammenhänge von Gesundheit und Ernährung sowie das Wissen, worauf es bei einer gesunden Ernährung ankommt (27 Prozent).
Das Interesse an gesunder Ernährung erwacht spät – meist zu spät
Die Mehrheit der Patienten entwickelt offenbar erst recht spät im Leben ein erhöhtes Interesse am Thema: Patienten, die ihre Ärzte (sehr) oft in Ernährungsthemen um Rat bitten, sind den Befragten zufolge meist in einem Alter von 40 Jahren und mehr. Dann scheint das Kind allerdings oft schon in den Brunnen gefallen zu sein, denn Thema Nummer eins, auf das die Ärzte (sehr) häufig angesprochen werden, ist das Thema Übergewicht (74 Prozent), gefolgt von Ernährung im Kontext chronischer Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes (65 Prozent). Lediglich 10 Prozent der Allgemeinmediziner sagen, dass sie (sehr) häufig auf Ernährung in Kontext der kindlichen Entwicklung angesprochen werden, noch weniger im Kontext Schwangerschaft (8 Prozent). Auch im Kontext der vegetarischen bzw. veganen Ernährung, sieht sich nur eine Minderheit der Ärzte häufig mit Fragen von Patienten konfrontiert (12 bzw. 8 Prozent).
Als ärztlicher Berater in der Pflicht – allerdings weitgehend machtlos
Dabei sehen sich die Ärzte beim Thema Ernährung durchaus als Berater in der Pflicht: Über 80 Prozent der Befragten betrachten es generell als ihre Aufgabe als Arzt, ihre Patienten proaktiv auf die gesundheitliche Bedeutung einer vollwertigen Ernährung regelmäßig hinzuweisen. Allerdings fühlen sich nur zwei Drittel dazu auch gut gerüstet und sagen von sich, dass sie ihre Patienten in Ernährungsfragen (äußerst) kompetent beraten können.
Die größten Herausforderungen oder Hürden, Patienten zu einer gesunden Ernährung zu bewegen, bestehen den Ärzten zufolge in der mangelnden Disziplin der Patienten (18 Prozent), im Durchbrechen der (familiären) Essgewohnheiten (16 Prozent) sowie in der mangelnde Motivation der Patienten (15 Prozent) im Ranking vorn. Ebenso oft scheitern die Ärzte im Praxisalltag aufgrund der mangelnden Zeit für Ernährungsberatung (16 Prozent).
Ärzte fordern Schulungsprogramme und Restriktionen
Die offenen Antworten der Ärzte zeugen von weitgehender Machtlosigkeit. Gesunde Ernährung ist ein komplexes Thema, das sie nicht mal eben verordnen können. Hier liegen für sie die größten Herausforderungen in der Patientenberatung: „Das persönliche Lebenskonzept zusammen mit wirtschaftlichen und sozialen Daten muß gemappt werden...“, sagt ein Befragter. Ein anderer nennt die Schwierigkeit, den „Gesprächseinstieg [zu] finden ( Nicht erst , wenn das Kind im Brunnen liegt.... )“. Eine Ärztin wünscht sich „Hilfestellung beim Finden einer anhaltenden intrinsischen Motivation, sich gesund und heilungsfördernd zu ernähren“.
Aufgrund der meist mangelnden Einsicht und Motivation der Patienten sehen sich die Ärzte kaum in der Lage, etwas auszurichten. Ernährungsberatung ist ihnen zufolge ein Schulungsthema, das am grundsätzlichen Essverhalten ansetzen muss. Benötigt werden den Medizinern zufolge explizite Verhaltensrichtlinien und langfristige Konzepte: „Fordere das Verbot von Fertiggerichten - Kochen kann man lernen und wenn in einer kleinen Koch-AG“ schreibt eine Ärztin. Einige Befragte mahnen an, es brauche klarere Grenzen des Gesundheitssystems: „Die Patienten haben zu 95% überhaupt kein Interesse irgendeine als belastend empfundene Einschränkung/Änderung hinzunehmen, da die Kasse ja alle Folgeerkrankungen/-Kosten komplett abdeckt ...warum selbst bemühen dann?!“ schreibt ein Arzt, ein anderer verweist plakativ auf „Mangelnde Konsequenzen bei gesundheitlichen Problemen: Mit Herzinfarkt bekomme ich doch leichter meine Erwerbsunfähigkeitsrente, Herr Doktor! . Mangelnde Kognition bzw. intellektuelle Benachteiligung. Alles in allem: Die Nachteile einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung: In Deutschland ist man so frei, dass man sich sogar die Gesundheit versauen kann ... und keinerlei Restriktionen seitens der Krankenkassen oder des Staates erfährt. Nein ... stattdessen erhalten die Betroffenen Zuwendung und Leistungen der Versichertengemeinschaft!“.
Gesundes Essverhalten wird dagegen in den Augen der Ärzte kaum gesellschaftlich honoriert, es fehle die „Gesellschaftliche Akzeptanz sich gesund zu ernähren, Wertigkeit der Nahrungsmittel, überall Verfügbarkeit ungesunder Lebensmittel die noch dazu unschlagbar billig sind (...)“. Übermächtig seien die „Konventionen, Überangebot ungesunder bzw. falscher Kost in Restaurants, Kantinen (sogar KrHs-Küchen!)“. Es geht um Ganzheitlichkeit, ein “Bewußtsein über Zusammenhang von Ernährung, Bewegung und Gesundheit im Konsens zu positivem Lifestyle ohne defizitäres Denken“ und die persönliche Herausforderung als Arzt „Ob ich es schaffe, ihn da abzuholen, wo er steht und ihn für gesunde Lebensweise zu begeistern.“
Beratungskompetenz fördern – auch Ärzte können noch dazulernen
Und wie gut kennen sich die Allgemeinmediziner selbst mit dem Thema Ernährung aus? Die Ergebnisse zeigen: Solange es um gesunde Ernährung allgemein geht, fühlen sie sich beratungssicher: 87 Prozent geben an, dass sie sich (sehr) gut auskennen fast ebenso viele mit der Ernährung im Kontext chronischer Erkrankungen wie Diabetes (84 Prozent) und fast zwei Drittel der Hausärzte im Kontext akuter Erkrankungen wie grippale Infekte (63 Prozent) gefolgt von Lebensmittelintoleranzen (61 Prozent). Gegenüber jungen Müttern und Vätern müssen allerdings viele Ärzte passen, nur rund ein Drittel fühlt sich mit Blick auf die Ernährung junger Familien sicher. Jeder vierte Befragte bräuchte beim Thema Ernährung im Kontext kindlicher Entwicklung mehr Informationen, jeder fünfte hinsichtlich Ernährung in der Schwangerschaft. Jeweils 41 Prozent der Hausärzte sagen, hierzu beraten sie nicht.
Insbesondere Veganer stoßen bei Ärzten auf wenig Verständnis
Auch bei besonderen Ernährungsweisen wie speziellen Diäten (z.B. Atkins-Diät, Low Carb, Low Fat) sowie der vegetarisch/veganen Ernährung hält sich ein Großteil der Ärzte in der Beratung eher zurück. Die Mehrheit fremdelt ausdrücklich mit diesen Ernährungsweisen: Nur knapp 30 Prozent der Ärzte sagen beispielsweise, dass sie sich mit dem Thema vegane Ernährung (sehr) gut auskennen, jeder Zehnte ist offen für weitere Informationen. 42 Prozent sagen jedoch explizit, sie beraten hierzu nicht, die übrigen interessiert es nicht. Nur 8 Prozent der befragten Ärzte stehen der veganen Ernährung (eher) befürwortend gegenüber, 71 Prozent (eher) skeptisch.
Vor dem Hintergrund, dass gerade die pflanzliche Ernährung sowohl von Experten wie auch in Publikumsmedien immer wieder mit viel Leidenschaft hinsichtlich der gesundheitlichen Auswirkungen kontrovers diskutiert wird und vegan lebende Menschen stets auf die hohe Bedeutung einer ärztlichen Betreuung hingewiesen werden – insbesondere wenn Kinder im Spiel sind – sind auch dies Ergebnisse, die nachdenklich machen.
Artikel von: Anja Wenke – DocCheck Research