Jungen sind viermal häufiger von Autismus betroffen als Mädchen. Warum das so ist, war bislang unklar. Jetzt zeigen Forscher in einer aktuellen Studie: Das Geschlechtshormon Testosteron aktiviert vor und nach der Geburt bestimmte Risikogene im Gehirn.Autismus tritt viermal häufiger bei Jungen als bei Mädchen auf. Humangenetiker des Universitätsklinikums Heidelberg haben dafür nun erstmals eine Erklärung gefunden. Ihre Untersuchungen an menschlichen Zellen und Gehirnbereichen von Mäusen zeigten, dass das männliche Geschlechtshormon Testosteron in der Zeit vor und nach der Geburt bestimmte Risikogene im Gehirn deutlich stärker aktiviert. Bisher war nur bekannt, dass Defekte in diesen speziellen Genen ein starker Risikofaktor für das Auftreten der neuronalen Entwicklungsstörung sind. Die neuen Ergebnisse lassen darauf schließen, dass sich diese Gendefekte möglicherweise stärker auf das Gehirn männlicher als weiblicher Individuen auswirken.
Bei Autismus ist die Entwicklung der Nervenzellen im Gehirn gestört. Eines von 68 Kindern (etwa 1,5 Prozent) ist betroffen. Die typischen Symptome machen sich bereits früh bemerkbar, so dass die Diagnose meist vor dem dritten Lebensjahr gestellt wird. Menschen mit autistischen Störungen haben Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion, in der Kommunikation und Wahrnehmungsverarbeitung und zeigen oft intensive, spezielle Interessen und Fähigkeiten, sowie repetitive und eng beschränkte Verhaltensmuster. Diese Merkmale autistischen Verhaltens können jedoch von Patient zu Patient stark variieren – man spricht deshalb von einem Autismus-Spektrum.
Obwohl in den vergangenen Jahren zahlreiche – hauptsächlich genetische – Risikofaktoren für das Auftreten einer autistischen Störung entdeckt wurden, sind die genauen Entstehungsmechanismen noch unklar. „Nun haben wir einen ersten Hinweis, warum – jedenfalls in Bezug auf eine wichtige Gruppe der zahlreichen Risikogene – Jungen ein so deutlich höheres Autismus-Risiko haben als Mädchen“, so Seniorautorin Prof. Gudrun Rappold. Die Tests ihrer Arbeitsgruppe ergaben, dass im jungen Gehirn männlicher Mäuse bestimmte Gene namens SHANK1, 2 und 3 verstärkt in Proteine übersetzt werden und dass dies durch höhere Mengen des Geschlechtshormons Testosteron beeinflusst wird. Die Heidelberger Arbeitsgruppe erforscht die SHANK-Gene seit Jahren, da Defekte in diesen Abschnitten der Erbinformation eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Autismus und anderen psychischen Erkrankungen spielen.
Für die Tests verwendete das Team eine Zellkultur aus Neuroblastomen als Modell für sich entwickelnde Nervenzellen. Die Wissenschaftler entdeckten in diesen Zellen, dass die Aktivierung der SHANK-Gene von der Bindung des Testosterons an einen sogenannten Androgenrezeptor abhängt. Wurde dieser Rezeptor blockiert, entfiel die starke Aktivierung der Risikogene. „Das konnten wir bei Untersuchungen an Gehirnbereichen junger Mäuse, bei denen dieser Androgen-Rezeptor nicht gebildet wird, bestätigen: Bei ihnen wurden diese Gene deutlich schwächer aktiviert als bei Kontroll-Tieren mit intakten Rezeptoren“, erklärt Studienautorin Dr. Simone Berkel.
Zudem interessierte die Forscher die Shank-Proteinmenge im Gehirn junger männlicher und weiblicher Mäuse vor und nach der Geburt. Bei männlichen Tieren, die von Natur aus mehr Testosteron in Blut und Gehirn haben, fanden sich auch deutlich höhere Mengen an Shank-Proteinen als bei weiblichen Tieren. „Wir gehen davon aus, dass die größere Menge an Shank-Protein im männlichen Gehirn die ‚Durchschlagskraft‘ von Defekten in den SHANK-Genen erhöhen und daher zu einem höheren Autismus-Risiko führen“, folgert Rappold.
Der Text basiert auf einer Pressemitteilung des Universitätsklinikums Heidelberg.
Quelle:
Sex hormones regulate SHANK gene expression Simone Berkel et al.: Frontiers in Molecular Neuroschience, doi: 10.3389/fnmol.2018.00337, 2018
Distinct Phenotypes of Shank2 Mouse Models Reflect Neuropsychiatric Spectrum Disorders of Human Patients With SHANK2 Variants Ahmed Eltokhi et al.; Frontiers in Molecular Neuroschience, doi: 10.3389/fnmol.2018.00240, 2018Bildquelle: Trinity Kubassek, flickr