BEST OF BLOGS | Achtung: Sensible Menschen und Träger des sogenannten Blitzherpes (Betroffene werden Bescheid wissen) sollten nur bis zur Einsatzmeldung lesen. Ich meine das wirklich so.
Dyspnoe gehört wohl zu einer der häufigsten Einsatzmeldungen. Dyspnoe bedeutet, dass da jemand schlecht oder zu wenig Luft bekommt. Was genau sich dahinter verbirgt ist, wie so oft, sehr variabel. Mal qualmt die Zigarette noch im Aschenbecher und wir sind Taxi für einen Patienten, der so seit mehreren Wochen wirklich immer schlechter Luft kriegt. Vorzugsweise nachts um drei kommen diese Einsätze vor.
Es kann auch der Status asthmaticus sein, eine Herausforderung für jedes Rettungsdienstteam. Meistens ist es irgendwas zwischen Komfortproblem und akuter Lebensgefahr.
So auch bei Dieter. Dieter hatte irgendwann mal seinen Arbeitsplatz verloren. Umstrukturierung, Outsourcing, sozialverträglicher Abbau. Nach dem Job verlor er seine Frau und auch den Glauben an sich selbst. Viele flüchten sich dann in die Alkoholsucht, Dieter fing an zu essen. Das Essen machte ihm Freude. Das Essen war seine einzige Freude. Solange er noch selber zum Einkaufen gehen konnte, war für alles gesorgt. Um ihn herum wurden Geburtstage gefeiert, Kinder auf die Welt gebracht und das Leben gelebt.
Dieter lebte seit dem Verlust des Arbeitsplatzes in einer 1-Zimmer-Wohnung. Vorne direkt hinter der Tür links eine Kochnische, rechts die Fertignasszelle in Leichtbauweise und geradeaus das Wohnzimmer mit Klappcouch. Geklappt wurde schon lange nichts mehr, es klappte ja auch sonst nicht mehr viel in Dieters Leben so, wie er sich das mal erträumt hatte.
Nein, mit Alkohol wollte er nichts zu tun haben, damit hatte er als Kind schon schlechte Erfahrungen gemacht. Damals bei seinem Vater. Aber die Eltern waren ja auch schon länger nicht mehr. Überhaupt waren da am Ende nur noch sehr wenige Kontakte. Irgendwann kam der Punkt, an dem Dieter selbst der Weg zum Supermarkt zu weit wurde und jemand musste ihm das Essen nach Hause bringen. Zu viel Gewicht. Zu wenig Luft.
Dieter schleppte sich vom Bett zur Toilette und zurück. Was ihm blieb, waren sein Fernseher, das Essen und die Hoffnung darauf, dass irgendwann die große Wende doch noch käme.
Dieter schämte sich für seine Situation, für sein Übergewicht und dass er sich nicht mal mehr selbst versorgen konnte. Deshalb ging er nie zum Arzt und rief auch nicht den Rettungsdienst.
Spät, viel zu spät griff er dann doch zum Telefon und rief die 112. Mit letzter Kraft schilderte Dieter dem Disponenten seine Not.
„Ich kann nich mehr. Kann nich mehr. Kemsterbach. Bahnhofstraße. Kann nich mehr.“
Einsatzmeldung: NA (Intern: NichsodieToplageehersowokeinerwohnenwill), Hochhaus, 4. OG, Kemsterbach, Dyspnoe, SoSi Mehrfach.
Als NEF waren wir zuerst vor Ort. Raus aus dem Auto, Beatmungsgerät, Absaugung, Notfallrucksack und Monitoring-/Defi-Einheit mitgeschleppt. Rein in den Aufzug, vierte Etage, Tür auf, Verwesungsgeruch.
Wer einmal gerochen hat, wie verwesendes Fleisch riecht, vergisst diesen Geruch nie. Es sind Gerüche wie der von Sommerregen auf heißem Asphalt. Gerüche, die man sich so realistisch vorstellen kann, weil sie eingebrannt sind.
Schon bei unserer Ankunft kroch ein ekelerregendes Gasgemisch durch die Aufzugtür, sodass alle Signale auf Flucht standen. Entgegen unserer Natur sollten wir aber dahin gehen, wo der Geruch herkam.
Die Geruchsmischung bewegte sich irgendwo im Dunstkreis von Verwesung, Kot, Urin und Schweiß. Eine säuerlich, aggressive und sehr kompakte Mixtur, die sich in der Nase, in der Haut und sogar in schwer entflammbarer Berufskleidung festsetzt.
Die Tür zur Wohnung hatte Dieter noch irgendwie geöffnet bekommen, dahinter saß er auf einem besonders verstärkten Küchenstuhl, die Arme auf der Küchenzeile verschränkt, den Kopf nach unten, schwerst luftnötig und nur bedingt ansprechbar.
Die Wohnung war nicht vermüllt und trotzdem verwahrlost. Auf dem Boden lag eine zentimeterdicke Schicht aus Nennen-wir-es-mal-Staub (hellgrau) und Dreck (dunkelgrau) und diversen Zutaten wie zum Beispiel Tabakresten (braun). Die Situation war relativ schnell erfasst, Dieter musste hier raus und zügig ins Krankenhaus. Reserven hatte er zum Zeitpunkt des Eintreffens schon so gut wie gar keine mehr, das war auch ohne Pulsoxymetrie ersichtlich.
Eigentlich fährt ständig ein Famulant oder Praktikant mit und ausgerechnet heute waren wir nur zu viert. RTW (RA + RS) und NEF (RA + NA). Vier Leute für geschätzte 200 kg. Eine Nachforderung eines weiteren RTWs oder gar eines Bergetrupps hätte Dieter nicht mehr überlebt. Dafür waren einfach keine Kapazitäten mehr da.
Also wuchteten wir ihn unter seiner Mithilfe vom Küchenstuhl aufs Feuerwehrstühlchen, von dort auf die Trage, in den RTW und dann mit Sonderrechten in die nächstgelegene Klinik. Ich fahre selten mit Sondersignal. Das erhöhte Unfallrisiko – tagsüber bis zu 26-fach erhöht, nachts ca. 35-fach – wiegt meines Erachtens in den seltensten Fällen den eventuell abwendbaren Schaden auf. In diesem Fall war alles anders.
Auf der Fahrt verschlechterte sich Dieters Zustand unter laufender Sauerstofftherapie bis zur Intubationspflichtigkeit. Wir übergaben ihn im Schockraum mit einem unter Katecholaminen noch erhaltenen Kreislauf, dort wurde er aber umgehend reanimationspflichtig.
Während der Reanimation zeigte sich im transthorakalen Echo ein aus der Lunge fortgesetzter, im Ventrikel stehender Thrombus. Selbst mit einer veterinärmedizinischen Dosis Lyse hätte sich dieser Trümmer nicht aufgelöst. Der Thrombus war zu groß und fügte sich damit nahtlos in die lose Folge von aus der Reihe geratenen Problemen. Zu viele Probleme, zu viel Einsamkeit, zu viel Essen, zu viel Gewicht, zu wenig Hygiene, zu wenig Bewegung, zu viel Thrombose.
Dieser Einsatz hing uns lange nach.
Epilog: Das Hochhaus, in dem seine Wohnung lag und in dem auch der Einsatz stattgefunden hatte, liegt direkt auf meinem Weg zur Arbeit. Jeden Tag fahre ich an diesem Hochhaus vorbei. Zwei Tage nach unserem Einsatz wurden in Dieters Wohnung die Fenster aufgerissen und blieben so für vier Tage komplett geöffnet, danach auf Kipp. Für vier Wochen. Tag und Nacht.
Es wurden am Ende sogar die Tapeten abgerissen und die Wohnung kernsaniert. Mittlerweile wohnt wieder jemand darin.
Bildquelle: O12, unsplash