Wenn es eine Sache gibt, die allem widerstrebt, was Mediziner im Studium lernen, ist es der Tod. Es gilt, ihn zu bekämpfen. Auch in Worten. Sei der Fall noch so hoffnungslos, der Patient und seine Angehörigen hören: Da geht noch was. Was ist so grausam an klaren Worten?
Warum scheuen sich Mediziner so sehr, auch mal klar zu sagen: Hier ist ein Leben gelebt worden und jetzt geht es zu Ende. Warum? Die Antwort ist relativ einfach und für den Patienten, noch mehr aber für die Angehörigen von schmerzhafter Konsequenz. Der Arzt wird darin ausgebildet zu helfen. Zu heilen. Zu retten. Den Tod als finale Niederlage zu akzeptieren wiederstrebt allem, was ein Mediziner im Studium und in der Ausbildung lernt und anderen lehrt. Und deshalb meidet der gemeine Arzt den Tod so konsequent es irgend möglich ist. Es wird nicht über das Ableben gesprochen (im Hospiz? Zuhause im Bett mit palliativer Pflege? Auf der Intensivstation? Beatmet?) sondern lieber nach weiteren lebensverlängernden Maßnahmen gesucht (Chemo? Bestrahlung? Heimbeatmung? Dialyse?).
Hoffnungsloser Fall: Wir müssen alles versuchen
Den Patienten wird oft in blumigen Worten (ich war oft genug dabei!) von all den Möglichkeiten erzählt. Damit verbundene Einschränkungen werden, wenn überhaupt, sehr selten und mehr als Fußnote, kleinlaut und im Flüsterton und auch nur auf explizites Nachfragen erwähnt. Und Nachfragen kommen glücklicherweise sehr selten. Nein, eine Chemotherapie ist kein Ponyhof. Und eine Dialysetherapie heißt mindestens dreimal die Woche für ca. 8 Stunden im Krankenhaus sitzen, dazu unzählige Katheterwechsel, tausend neue Medikamente, tausend mal tausend Nebenwirkungen und irgendwann das unter Medizinern berühmte „Dialysehirn“. Die Vermeidung des Todes hört aber nicht mit dem Tod auf. Manche Patienten erdreisten sich tatsächlich zu sterben, tun dies dann auch noch im Krankenhaus und werden dann mit Laken überm Gesicht (warum eigentlich?) über den Lastenaufzug schnell in den Keller gefahren und von dort aus in einem abgedunkelten Fahrzeug abtransportiert. Ist der Tod so etwas grausames? Oder ist es nicht viel grausamer, wenn man sich ständig darum bemüht ihn zu verdrängen?
Vor ein paar Jahren lernte ich (damals noch Student) einen Patienten, Herr Postel, 54 J. kennen. Seineszeichens im Amateurbereich erfolgreicher Fahrrad-Rennfahrer, immer viel an der frischen Luft, nie geraucht, jetzt mit metastasiertem Bronchialkarzinom*. Traurig, tragisch, ohne Frage. Der Familie wurden die üblichen Gespräche angeboten (ja, Chemo, auf jeden Fall … gute Prognose … müssen alles versuchen … noch keine Lebermetastasen …).
Für Mediziner ein klarer – weil hoffnungsloser – Fall. Für den Patienten und die Familie – aufgrund mangelhafter Aufklärung – eine ernste, aber zu überstehende Erkrankung. Nach außen sah man ja wenig von dem Tumor. Herr Postel starb inmitten eines seiner unzähligen Chemotherapiezyklen – für einen Tumorpatienten typisch – sehr plötzlich, er hatte eine massive Lungenembolie (Verlegung der Hauptblutbahnen der Lunge).
Die Familie fällt aus allen Wolken
Nicht alle Tumorpatienten sterben einen langsamen Tod. Der Tumor macht tausend Veränderungen im Körper, eine mögliche Folge sind Gefäßgerinnsel mit plöztlichen Schlaganfällen oder eben Lungenembolien. Die Familie fiel aus allen Wolken. Der wäre doch noch so gesund gewesen, sie haben doch noch im Garten gesessen, von Tod wäre überhaupt nie die Rede gewesen. Die behandelnden Mediziner wiederum waren perplex. Für sie war es unausgesprochen (!) klar, dass diese Erkrankung zum Tode führen würde. Nur war eben nicht klar, wann.
Das Problem für die Familie war, dass es ein Unternehmen gab, welches von Herrn Postel als Geschäftsführer geleitet wurde. Ausstehende Großaufträge waren an seine Person gebunden, Verträge und prokuristische Rechte waren alleine für ihn festgeschrieben. Es gab keine Vorsorge, weil keiner damit rechnete, dass man an sowas auch mal sterben könne. Die Firma wurde letztlich unter den beiden Söhnen aufgeteilt, der eine wollte, der andere wollte nicht, das Erbe wurde ausgezahlt, die Firma verkauft, letztlich insolvent, die Mitarbeiter arbeitslos. Klar hätte man auch unabhängig von der Erkrankung viel eher vorsorgen müssen, aber hier trifft die behandelnden Mediziner nach meinem Erachten eine Teilschuld, weil wieder mal das Unvermeidliche gemieden wurde.
Für den Mediziner ist der Tod die ultimative Niederlage. Er ist der größte Feind und er gilt bekämpft zu werden, mit allen Mitteln. Bis zum Schluss. Und sei es auch die drölfzigste Chemotherapie, dem Patienten wird immer erzählt: Da geht! noch! was! Warum eigentlich? Schon wenn wir geboren werden ist klar, dass dieses kleine Herz auch irgendwann wieder aufhören wird zu schlagen. Warum muss man dann so krampfhaft alles tun, um das unvermeidliche zu vermeiden?
Gespräche ebnen den Weg
Und so bleibt am Ende als ewiger Gewinner immer der Tod. Ich für meinen Teil sehe den Tod als Teil des Berufs, Teil der Krankheit. Ich freue mich, wenn ich Menschen durch Gespräche oder auch Medikamente die Angst vor dem Tod nehmen kann. Statt Angst vor einer erneuten Niederlage gegen den ewigen Gewinner zu haben, konzentriere ich mich darauf, den Angehörigen Mut zu machen, ihre geliebten Menschen gehen zu lassen und dann den letzten Weg gemeinsam zu gehen. Oft erlebt man dabei wunderbar friedliche Momente.
Solche Gespräche dauern manchmal eine Stunde, manchmal auch länger, und sind in jedem Fall aufwendiger als eine Dialyseanlage ins Zimmer zu fahren und anzuschließen. Aber sie sind wichtig und gut und richtig. Es gibt ein Umdenken in der jungen Medizinergeneration, ich glaube wir sind da auf einem guten Weg.