Der Arztberuf kann belastend sein. Deshalb rutschen auch Mediziner in die Drogensucht. Immerhin sitzen sie an der Quelle für Substanzen wie Sedativa und Narkotika. Besonders für Anästhesisten ist der Griff in die verbotene Schublade leicht. Viele Medikamente werden nicht bilanziert.
Heute gehört die Drogenkarriere von Dr. Thomas Feldner (Name geändert) der Vergangenheit an. Über Jahre hinweg hat der Arzt verschiedene psychotrope Substanzen konsumiert, erst um sein Studium zu überstehen, später, um den Alltag im Klinikum zu bewältigen. Mittlerweile rührt er weder Betäubungsmittel (BtM) noch Arzneimittel mit Suchtpotenzial an. DocCheck kam mit ihm über eine ambulante Beratungsstelle in Kontakt. Sein Fall zeigt, wie leicht Mediziner in die Drogenabhängigkeit rutschen können.
„Schon früh stand für mich fest, dass ich Medizin studieren wollte“, erzählt Feldner. Am Gymnasium lief alles gut, gelegentlichen konsumierte er Cannabis. Der Vater war Chefarzt an einem großen Krankenhaus und Feldners Einser-Abitur verschaffte ihm den ersehnten Hochschulzugang. Noch im ersten Semester merkte er, dass zwischen der Schule und der Uni Welten lagen. „Medizin war mein Traum, aber der Druck wurde einfach zu groß.“ Anderen Kommilitonen erging es nicht besser: Bei einer gemeinsamen Lerngruppe gab es schließlich Kokain. „Die Wirkung hat mich schier umgehauen“, erinnert sich der Arzt. Auf einmal fühlte er sich euphorisch, wurde nicht so schnell müde und hielt länger durch. Die Verhaltensveränderung blieb nicht unbemerkt. Während eines Laborpraktikums sprach ihn ein Assistent gezielt darauf an. Doch Feldner bestritt jeglichen Drogenkonsum, damit war die Sache vom Tisch. Ärger will in der Uni niemand. Um nach überstandenen Klausuren wieder runterzukommen, griff er zu Cannabis, aber auch zu Alkohol. „In meiner Unistadt gab es alles und Geld bekam ich von meinen Eltern auch genug“, erinnert er sich. Morgens fühlte er sich oft schlecht. Doch die nächste Dosis Kokain half, das schlechte Gewissen und die Schmerzen zu beseitigen. „Ich war der felsenfesten Überzeugung, alles unter Kontrolle zu haben.“ Ein Trugschluss.
Im praktischen Jahr stieß Feldner zunehmend an seine Grenzen: „Ich merkte, dass ich das nicht mehr lange durchhalten konnte“. Er ließ sich krankschreiben, versuchte einen ambulanten Entzug, kam vom Koks aber nicht los. Ein Oberarzt fragte damals nach, gab sich aber mit Feldners Dementis zufrieden. Also passierte wieder nichts. Feldner absolvierte mit Ach und Krach sein Examen. Er beschloss, Facharzt für Anästhesiologie zu werden. Ob diese Entscheidung mit seiner Sucht und mit dem leichteren Zugriff auf Medikamente in Verbindung stand, kann er nicht sagen, will diese Möglichkeit aber nicht ausschließen. „Es war in der Facharzt-Ausbildung nicht schwer, an Substanzen zu kommen“, erinnert er sich. „Pharmaka werden ampullenweise aus dem Bestand gelöscht, obwohl wir für eine OP vielleicht nur Bruchteile benötigt haben.“ Im allgemeinen Chaos beim Aufräumen sei es leicht gewesen, Anbrüche verschwinden zu lassen. Das bestätigt auch der Narkosedoc, ein Anästhesist und Blogger bei DocCheck: „Ich könnte mir jeden Tag eine Packung Schlafmittel wie Midazolam oder auch ein paar Flaschen Propofol mitnehmen und müsste dafür nicht mal Aufzeichnungen fälschen – es gibt hierfür nämlich keine. Bestände werden einfach aufgefüllt und fehlende Ampullen fallen nicht unbedingt auf. Kontrolliert werden nur BtMs und selbst die lassen sich beschaffen“, berichtet er. Fehlende Bestände ließen sich etwa als Glasbruch von Ampullen eintragen. „Obwohl man denken könne, besonders Opioide würden in diesem Zusammenhang ein Problem darstellen, so ist der Missbrauch von Sedativa wie Benzodiazepinen, aber vor allem von Propofol ein erheblich größeres Problem. Die beabsichtigte Wirkung setzt moderat ein, es entspannt, euphorisiert und hat noch andere ‚Vorteile‘“, erklärt der Narkosedoc. Auf weitere Aspekte möchte er an dieser Stelle nicht eingehen, da er keine Anleitung zum Missbrauch geben möchte.
Feldners Geschichte ist also keineswegs ein Einzelfall. Der Narkosedoc berichtet von „erschreckend vielen“ betroffenen Kollegen. „Bereits im Studium pushen sich manche Kommilitonen mit legalen oder illegalen Medikamenten, um mehr leisten zu können.“ Auch im Krankenhaus sah er mehrfach Kollegen mit auffälligem Verhalten, das rückblickend auch durch einen eventuellen Abusus erklärbar war. „Ich habe oft versucht, derartiges Verhalten als starke Übermüdung und Folge der belastenden Dienste abzutun, aber das trifft wohl auch nicht in allen Fällen zu“, vermutet er. „Die Dunkelziffer ist hoch.“ Belastbare Daten gibt es kaum. Für Deutschland ermöglichen Ergebnisse mehrerer Online-Umfragen der Privatklinik Eschweiler grobe Einschätzungen. Von allen 400 teilnehmenden Ärzten gaben elf Prozent an, Alkohol und/oder sonstigen Substanzen gegen den Stress zu verwenden. Berücksichtigt man, dass bei diesen Umfragen eher stressgeplagte Ärzte teilnehmen, ergeben sich acht Prozent als bereinigte Quote. Und auch laut Bundesärztekammer (BÄK) leiden sieben bis acht Prozent aller Ärzte mindestens einmal im Leben an einer Suchterkrankung. „Die Quote der suchtkranken Mediziner entspricht in etwa der Quote in der Gesamtbevölkerung“, erklärt Professor Dr. Götz Mundle von den auf Suchterkrankungen spezialisierten Oberbergkliniken gegenüber der Welt.
Studienleiterin Dr. Katja Geuenich aus Eschweiler spricht trotzdem von „bemerkenswert hohen Zahlen“, denn eigentlich sollten doch gerade Ärzte gesundheitliche Probleme bei sich selbst erkennen. Für mögliche Auslöser hält sie Stress im Job durch die besondere Verantwortung, die man als Arzt trägt, aber auch lange Arbeitstage oder Konflikte am Arbeitsplatz. „Offenbar nehmen sie Probleme des Arbeitslebens mit nach Hause“, ergänzt Geuenich. „Irgendwann kann man ohne Hilfsmittel nicht mehr abschalten.“ Das bestätigen auch Berichte einer Bekannten aus dem Umfeld der Redaktion. Selbst in der Techno-Szene unterwegs, berichtet sie von einem Herzchirurgen, der sich am Wochenende häufig mit Drogen betäubt. „Es kommt vor, dass er dann seltsam unbeteiligt erzählt, wie ihm heute wieder vier Patienten unter der Hand weg gestorben sind.“ Zu späterer Stunde säße er dann meist lethargisch in der Ecke und sei nicht mehr ansprechbar. Nach Einschätzung des Narkosedocs ensteht das Suchtrisiko bei Ärzten durch die hohen Anforderungen, die sowohl der Beruf als auch der Vorgesetzte an sie stellt. Hinzu kommen die langen Arbeitszeiten, viele Überstunden und der gestörte Tag-/Nachtrhythmus durch Bereitschafts-, Ruf-, oder Schichtdienste. „Bei einzelnen Berufsgruppen gibt es zusätzlich stark belastende Erlebnisse. Bei Rechtsmedizinern sind es die Untersuchungen von Opfern nach körperlichem oder sexuellem Missbrauch oder auch die Sektion grotesk entstellter Leichen nach Bahnunfällen. Das geht an keinem Mediziner spurlos vorbei“, so der Narkosedoc. Für Anästhesisten sei der Griff zu Medikamenten durch die fehlende oder mangelhafte Bilanzierung besonders leicht. Der Diebstahl fiele nicht auf und anderes als bei Alkohol gebe es keine Fahne oder andere leicht sichtbare Folgen des Missbrauchs, gibt er zu bedenken.
Es können ganz unterschiedliche Stoffe sein, zu denen Ärzte greifen, um mit dem Stress umzugehen. BÄK-Angaben zufolge steht Alkohol an erster Stelle (60 Prozent aller Substanzabhängigkeiten), gefolgt von Medikamenten (23 Prozent) und illegalen Drogen (17 Prozent). Jeder fünfte Abhängige nimmt mehrere Substanzen gleichzeitig ein. Tatsache ist: Wer mit Pharmaka arbeitet, kann etwas abzwacken. Auch DocCheck-Blogger Medizynicus berichtet auf unsere Nachfrage, dass er viele Kollegen kennengelernt hat, die beim Alkohol „ordentlich etwas vertragen haben“. Ein Kollege habe auch mal eine zeitlang Benzodiazepine genommen, er habe sich wohl selbst bedient, erzählt er. „Das war billiger als Alkohol.“ Und die Suchtproblematik scheint unter Medizinern keinesfalls ein neues Phänomen zu sein: „Von der Generation vor mir habe ich gehört, dass es in den siebziger oder achtziger Jahren in Chirurgenkreisen durchaus üblich war, morgens aufputschende Mittel wie Captagon zu nehmen oder zumindest aber hochdosierte Koffeinpräparate“, erzählt der Medizynicus. Abends konnte man dann ohne einen doppelten Wodka oder Benzos nicht schlafen. Problematisch ist auch der Umgang mancher Ärzte mit Propofol. Im OP ist das intravenös zu verabreichende Anästhetikum leicht verfügbar, etwa über Anbrüche. Wie viele Ärzte von Propofol abhängig sind, bleibt ungewiss. Professor Dr. Christoph Maier vom Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum hat bei 48 rechtsmedizinischen Instituten im DACH-Bereich nach Todesfällen in Zusammenhang mit Propofol gefragt. Er bekam 39 Berichte zur Auswertung, die sich auf einen Zeitraum von zehn Jahren beziehen. Darunter befanden sich 22 Ärzte und 13 Pflegende. Die Haupttodesursache war in 33 Fällen (85 Prozent) tatsächlich das Anästhetikum. „Diese Zahlen belegen die zentrale Rolle von Propofol für letal verlaufende Abhängigkeitserkrankungen und Suizide bei Anästhesisten und in diesem Arbeitsbereich Tätigen“, so Maier.
Genau da sieht der Narkosedoc eine Möglichkeit anzusetzen: „Man sollte überlegen, wie es gelingen könnte, Analgetika und Sedativa besser zu überwachen. Wir haben uns jahrelang auf BtM fokussiert.“ Er kann sich bürokratiearme digitale Tools vorstellen, um den Soll- und den Istbestand abzugleichen. „Computer erkennen Auffälligkeiten und Abweichungen besser als wir.“ Schlüge das System zum Beispiel in der Apotheke des Krankenhauses Alarm, würde eine aufwändige Recherche folgen. Unter Umständen müssten dann Ampullen markiert und Fehlbestände mit Dienstplänen abgeglichen werden. „Wenn ich eine Auffälligkeit bemerke, muss es eine Möglichkeit geben, diese niedrigschwellig zu melden.“ Als Beispiel nennt er Systeme aus der Luftrettung. Im Jahr 2002 war ein Hubschrauber mit betrunkener Crew abgestürzt. Ihr Alkoholproblem war bekannt, aber niemand hatte etwas gesagt. Das nahmen Dienstleister im Bereich der Luftrettung zum Anlass, um Meldesysteme einzuführen. „Es geht nicht darum, zu denunzieren, sondern Unbeteiligte zu schützen.“ Gleichzeitig steigen so die Chancen, Abhängige an einem Punkt abzuholen, an dem noch Hilfe möglich ist. „Ideal sind Gespräche mit neutralen Mediatoren.“ Denn Betroffene direkt anzusprechen, erfordere nicht nur viel Mut, sondern sei auch nicht unbedingt erfolgversprechend, ergänzt der Narkosedoc. Viele Abhängige leugnen die eigene Sucht und handeln im Anschluss einfach vorsichtiger. So auch Thomas Feldner. Dass Feldner schießlich doch aufflog, hing auch mit Propofol-Diebstählen zusammen. „Mich hat wohl jemand im OP beobachtet“, vermutet er heute. Die Krankenhausleitung zeigte ihn wegen Fehlbeständen an, in seinem Spind fand man mehrere Arzneimittel.
Die Approbation retten
„Wegen der besonderen Stellung und Verantwortung des Arztes ist eine Suchtmittelabhängigkeit mit einer ärztlichen Tätigkeit grundsätzlich nicht vereinbar“, schreibt die Landesärztekammer Brandenburg. „Von daher droht jedem suchtmittelabhängigen Arzt, egal ob es sich um Alkohol, psychotrope Medikamente oder illegale Drogen handelt, der Entzug der Approbation bis hin zum Berufsverbot, wenn er sich nicht unverzüglich in Behandlung begibt.“ Um das Schlimmste zu vermeiden, gibt es in allen Kammerbezirken spezielle Programme, zum Beispiel das Interventionsprogramm „Arzt und Sucht“ in Bayern. „Daran können Ärzte, die bereits auffällig geworden sind, teilnehmen, um ein Ruhen oder einen Entzug der Approbation zu vermeiden“, so Dr. Heidemarie Lux. Sie ist Vorstandsmitglied der Bayerischen Landesärztekammer. Voraussetzung sei es, bis zum Abschluss der eigenen Behandlung nicht zu arbeiten. Am Ende nimmt ein Suchtexperte Stellung dazu, ob die ärztliche Tätigkeit wieder aufgenommen werden darf. Im Abstand mehrerer Jahre folgen weitere Termine, um den langfristigen Erfolg sicherzustellen. „Ein großes Problem ist, dass private Krankenversicherungen häufig Suchterkrankungen in der Erstattung ausschließen“, weiß Lux. „Lassen sich Ärzte stationär behandeln, fehlen auch die Einnahmen aus der eigenen Praxis. Vertreter müssen privat bezahlt werden und horrende Honorare sind nicht selten. „Deshalb suchen viele Kollegen mit Suchtproblem erst Hilfe, wenn es wirklich nicht mehr geht“, ergänzt Lux. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern bemüht sich um Vertretungs-Ärzte, falls Betroffene nicht selbst eine kurzfristige Vertretung finden. Können sich Ärzte die Behandlung nicht leisten und springt kein Kostenträger ein, übernimmt die Bayerische Ärzteversorgung 80 Prozent aller Reha-Ausgaben. Gleichzeitig entkräftet Lux die Sorge vieler Kollegen, sich quasi gemeinsam mit ihren Patienten in Behandlung zu begeben: „Wir vermitteln Angebote, die sich speziell an Ärzte richten.“
Diesem Prozedere hat sich auch Thomas Feldner in einem anderen Bundesland unterzogen. Danach blieb es bei Kaffee und Zigaretten, andere Drogen hat der Arzt seinen Angaben zufolge nicht mehr angerührt. Seinem Vorbild sollten mehr Kollegen folgen. Momentan melden sich bei allen Landesärztekammern zusammen nur zehn bis 20 Kollegen pro Jahr zur Therapie. Die Dunkelziffer dürfte um den Faktor 1.000 höher sein, glaubt man Online-Befragungen aus Eschweiler. Hilfe gibt es, aber den ersten Schritt müssen Betroffene immer selbst machen.