Spiegelneuronen sind die Schaltstelle zwischen motorischem und visuellem Hirnareal. Bisher glaubte man, sie seien wichtig für die Interpretation von Handlungen anderer. Offenbar entscheidet aber die visuelle Wahrnehmung, ob wir eine Handlung als freundlich oder aggressiv einstufen.
In der Wahrnehmungsforschung geht man davon aus, dass Menschen eine gesehene Bewegung im eigenen motorischen System dank der Spiegelneuronen selbst durchspielen. Die speziellen Nervenzellen sorgen dafür, dass Gesehenes im Gehirn so simuliert wird, als ob wir es am eigenen Körper erfahren. Die Spiegelneurone sind dabei die Schaltstelle zwischen motorischem und visuellem Areal. Wenn aber das motorische System für die Einordnung einer Handlung ausschlaggebend sein soll, heißt dies im Umkehrschluss auch, dass die Wahrnehmung durch das Ausführen einer eigenen Handlung manipuliert werden kann.
Die Forscher am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen analysierten in ihrer Studie, durch welchen Mechanismus das Gehirn eine Handlung erkennt. Dazu zeigten sie den Probanden zwei verschiedene Bewegungen: einen Faustschlag und eine Begrüßungsgeste, den „Fist bump“. Dabei arrangierten sie das Szenario so realistisch wie möglich. Ein lebensgroßer Avatar stand der Versuchsperson auf einer Leinwand gegenüber. Dank einer speziellen Datenbrille sah der Proband das virtuelle Gegenüber dreidimensional. Eigentlich ging es für die Versuchspersonen lediglich darum, zu entscheiden, ob ihnen gerade ein aggressiver Faustschlag oder eine nett gemeinte Begrüßung präsentiert wurde. Allerdings erschwerten die Wissenschaftler die Bedingungen etwas, indem sie die beiden Gesten zu einer einzigen Bewegung verschmolzen. So wurde es Interpretationssache, welche Absichten der Avatar hatte. Die Frage war nun: Lassen sich Menschen bei der Deutung von Handlungsabläufen anderer tatsächlich durch ihr eigenes motorisches System beeinflussen? Die Probanden wurden dazu im Experiment auf verschiedene Weise manipuliert: Sie beobachteten auf der Leinwand eine klar zu erkennende Handlung in einer Endlos-Schleife. Gleichzeitig wurden sie selbst aktiv und führten zum Beispiel Schläge in der Luft aus. Anschließend sollten sie beurteilen, wie die undefinierbare Bewegung des Avatars zu deuten sei.
Wurden die beiden Sinnesreize gegeneinander ausgespielt - sah also der Proband beispielsweise einen Fist Bump vor sich, während er selbst einen Faustschlag ausführte - dann ging der visuelle Eindruck als klarer Sieger hervor. Die eigene Bewegung nahm dagegen keinen Einfluss auf die Wahrnehmung. Der Einfluss des Motorsystems schlug sich, anders als bisher vermutet, kaum auf die Einschätzung der Versuchsteilnehmer nieder. Zur Überraschung der Wissenschaftler spielten die mit dem motorischen System verknüpften Spiegelneuronen Handlungserkennung offenbar keine größere Rolle. Mit dem Versuchsaufbau konnte das Team zum ersten Mal den Beitrag des Motorsystems zur Handlungserkennung während sozialen Interaktionen unter lebensnahen Experimentalbedingungen untersuchen und damit auch die bisherige Theorie über das Zusammenspiel von Spiegelneuronen und Reizverarbeitung. „Anders als bisher angenommen ist der Einfluss der Spiegelneurone auf die Deutung einer Handlung nicht besonders groß. Die visuelle Wahrnehmung ist nämlich sehr viel wichtiger für unser Gehirn - wir verlassen uns auch in sozialen Situationen fast ausschließlich auf das, was wir sehen“, fasst Erstautor Stephan de la Rosa die Ergebnisse zusammen. Originalpublikation: Visual adaptation dominates bimodal visual-motor action adaptation. Stephan de la Rosa et al.; Scientific Reports, doi: 10.1038/srep23829; 2016