Täglich verliert unser Körper knapp 2,5 Liter Flüssigkeit. Daher lautet die allgemein bekannte Empfehlung: Mindestens zwei Liter Wasser sollte der Mensch pro Tag trinken. Wie evidenzbasiert ist diese Aussage? Und wer profitiert am Ende davon, wenn wir viel trinken?
Kaum jemand verlässt sein Haus ohne die obligatorische Wasserflasche. Und wer kennt sie nicht, die Kolleginnen oder Kollegen im Büro, mit ihrer aufgereihten Tagesration an Mineralwasser. Das muss ich heute alles noch trinken, sagen sie stolz. Unser Körper brauche eben viel Flüssigkeit – am besten zwei Liter täglich. Ist diese Trinkmenge wirklich sinnvoll?
Laut Deutscher Gesellschaft für Ernährung (DGE) nehmen gesunde Erwachsene im Schnitt 1.440 ml Wasser über Getränke und 875 ml über feste Nahrung auf. Bei der physiologischen Verbrennung der Nährstoffe im Körper fällt sogenanntes Oxidationswasser an. Das sind im Schnitt weitere 335 ml. Und die gleiche Menge scheiden wir dann wieder aus: über unseren Urin (1.440 ml), den Stuhl (160 ml), über die Haut (550 ml) und die Lungen (500 ml). Die Richtwerte für die richtige Trinkmenge schwanken bei Menschen ohne Vorerkrankungen zwischen 400 ml (Säuglinge ab dem vierten Monat) und 1.710 ml (Stillende). Experten der DGE raten Erwachsenen dazu, je nach Alter, etwa 1.200 bis 1.500 ml Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Die oft genannte Faustformel von zwei Litern am Tag liegt deutlich höher. An dieser 2-Liter-Empfehlung zweifelte Heinz Valtin von der Dartmouth Geisel School of Medicine in Hanover (New Hampshire) schon vor 15 Jahren. Der mittlerweile emeritierte Professor für Physiologie und Neurobiologie fand keine validen Daten für normale Trinkmengen bei Erwachsenen. Besser sei, sich getrost auf das Durstgefühl zu verlassen, schreibt Valtin. Er rät, auch Kaffee oder Tee als Teil der Trinkmenge zu betrachten. Ihm zufolge werde der diuretische (harntreibende) Effekt von Getränken mit Coffein überschätzt – eine Sichtweise, die heute von Fachgesellschaften ebenfalls getragen wird.
Das Durstgefühl wird als Teil der Osmoregulation über verschiedene Mechanismen im Körper gesteuert. Osmorezeptoren sind spezialisierte Rezeptorzellen, die Konzentrationen an Molekülen außerhalb von Zellen bestimmen. Bei Wassermangel senden sie Signale aus, die die Neurohypophyse zur Ausschüttung des antidiuretischen Hormon (ADH) anregt. Das erhöht die Wasserrückresorption der Niere, um den Körper vor weiterem Wasserverlust zu schützen. In den Nieren kurbeln die Osmorezeptoren zudem das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System an. Die Nebennierenrinde schüttet verstärkt Aldosteron aus. Dadurch werden Natriumionen und Wasser stärker rückresorbiert. Darüberhinaus signalisieren Drucksensoren im Gastrointestinalbereich beim Trinken, dass Flüssigkeit vor Ort angekommen ist. Dieser Mechanismus scheint speziell bei älteren Menschen gestört zu sein, was ihr vermindertes Durstgefühl erklären könnte.
Valtins Kollege Barry Popkin von der University of North Carolina in Chapel Hill hält auch nicht viel von überhöhten Trinkmengen. Er wirft den Lebensmittelkonzernen geschicktes Sponsoring vor. Im Gespräch mit der New York Times erklärt er: „Fast die gesamte Wasserforschung wurde von der Industrie finanziert.“ Und Maude Barlow, eine kanadische Umweltaktivistin, ergänzt: „Diese Vorstellung, dass man immer Wasser dabeihaben muss, damit man nicht verdurstet, ist lächerlich. Das haben die uns eingeredet.“ Beispielsweise sponsern US-Getränkehersteller Kampagnen wie „Drink Up“, um den Konsum zu befeuern. Laut ARD sei es sogar gelungen, Barack Obamas Verbot von Wasserflaschen in Nationalparks zu kippen. Alles nur im Dienste der Gesundheit, versteht sich. In Deutschland soll „Trinken im Unterricht“ Schüler animieren, öfter zur Flasche zu greifen. Ein Blick in das Impressum der Website verrät: Dahinter versteckt sich die Informationszentrale Deutsches Mineralwasser im Auftrag des Verbandes Deutscher Mineralbrunnen. Und Nestlé rät Konsumenten per Online-Information, nicht auf ihr Durstgefühl zu hören, sondern mehr in sich reinzukippen: Gesunde Menschen können ihrem Durstgefühl vertrauen. Hersteller sehen das anders. Screenshot DocCheck, © Nestlé Ähnliche Absichten verfolgt die Initiative „Hydration 4 Health“. Per Urin-Farbskala oder Trinkrechner ermitteln Konsumenten ihre optimale Trinkmenge. Auf der Homepage rät die Initiative per se Männern zu 2,5 und Frauen zu 2 Litern Wasserkonsum täglich. Die Domain wurde laut Whois-Abfrage vom Lebensmittelkonzern Danone registriert.
Wie sieht es aber mit der Trinkmenge bei kranken Menschen aus? Eine verbreitete Annahme ist, dass beispielsweise Menschen mit Nierenleiden mehr Wasser trinken sollten. Sogar tierexperimentelle Studien hatten Hinweise auf einen Mehrwert gezeigt. Mäuse, deren Nieren fast vollständig entfernt worden waren, konnten durch eine höhere Wasserzufuhr die Restfunktion der Nieren erhalten. Im Rahmen von „Choosing Wisely“ („Klug entscheiden“), einer Initiative gegen sinnlose Diagnostik und Therapie in der Medizin, schreiben Nephrologen jedoch: „Hohe orale Flüssigkeitsmengen sollen nicht eingesetzt werden, um die Nierenfunktion zu bessern oder Nieren zu spülen“. Rückendeckung erhalten sie von William F. Clark, einem Forscher am London Health Sciences Centre, Ontario. Er untersuchte den Effekt von Trinkmengen bei 631 erwachsene Patienten mit Niereninsuffizienz im Stadium 3. Ihre geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (GFR), also das pro Zeiteinheit von Glomeruli filtrierte Volumen, lag zwischen 30 und 60 mL/min/1.73 m2. Gleichzeitig kam es zu Mikroalbuminurie oder Makroalbuminurie, also Proteinausscheidungen unterschiedlichen Umfangs. Alle Studienteilnehmer schieden vor Studienbeginn 1,9 Liter Urin pro Tag aus. Für die Untersuchung sollten sie entweder einen bis anderthalb Liter Wasser zusätzlich trinken (n = 316) oder ihre Gewohnheiten beibehalten (n = 315). Zuvor hatte Clark in einer Pilotstudie gezeigt, dass mehr Flüssigkeit in dieser Größenordnung unbedenklich ist. William Clark mit den Coautorinnen Kerri Gallo und Jessica Sontrop (v.l.n.r.) © KCRU Nach einem zwölfmonatigen Follow-up kam die Ernüchterung. Völlig überraschend schnitten Teilnehmer der Gruppe mit erhöhter Trinkmenge schlechter ab als Kontrollen. Die mittlere Veränderung der GFR war -2,2 ml/min/1,73 m2 versus -1.9 ml/min/1,73 m2. Das heißt, Trinken konnte fortschreitende Verluste der Nierenfunktion nicht wettmachen. Laut Erstautor könne es daran liegen, dass die epidemiologische Studie zu kurz lief, um einen Mehrwert zu finden oder die Trinkmenge zu gering war für signifikante Effekte. Womöglich haben sich die Patienten auch nur teilweise an die Vorgaben gehalten.
Wer es als Gesunder mit dem Wassertrinken stark übertreibt, bemerkt die Folgen unmittelbar: Es kommt zu Übelkeit, Kopfschmerzen und Schwindel als Symptome einer Hyponatriämie. Darunter versteht man eine verminderte Konzentration von Natriumionen im Blut bzw. im Blutplasma. Das ist Jennifer S. (28) aus Kalifornien passiert, als sie an einem umstrittenen Trinkwettbewerb eines Radiosenders teilgenommen hat. Wenige Stunden später starb sie. Auch beim Sport kommt es immer wieder zu Todesfällen, die wohl im Zusammenhang mit einer Hyponatriämie stehen. Deshalb greifen Profisportler auch zu isotonischen Getränken statt Wasser. Für den Normalverbraucher reicht es aber völlig, seinem Durstgefühl zu vertrauen.