Leistungen zur Primär- oder Sekundärprävention großer Volkskrankheiten erfüllen medizinisch ihren Zweck. Gleichzeitig verringern sich die Leistungsausgaben gesetzlicher Krankenversicherungen. Doch das dicke Ende naht – über entgangene Zahlungen aus dem Morbi-RSA.
Vorbeugende Maßnahmen stehen bei der Bundesregierung hoch im Kurs. Über ihr Präventionsgesetz verpflichtet sie Krankenkassen und Pflegekassen, mehr als 500 Millionen Euro pro Jahr in Gesundheitsförderung und Prävention zu stecken. Allein 300 Millionen sind für Kitas, Schulen, Kommunen, Betriebe und Pflegeeinrichtungen vorgesehen. Details liefert der aktuelle AOK-Präventionsbericht: Im Settingansatz gaben gesetzliche Krankenversicherungen zuletzt 31,7 Millionen Euro aus. Dazu gehören Schulen, Kindergärten und andere nicht betriebliche Lebenswelten. Für die betriebliche Gesundheitsförderung ließen GKVen 67,8 Millionen springen. Und 193 Millionen Euro wurden für individuelle Ansätze ausgegeben. Bei einem Gesamtvolumen von 292,5 Millionen Euro erhielt jeder Versicherte rein rechnerisch 4,16 Euro. Machen diese Ausgaben wirklich Sinn?
Mit dieser Frage befasst sich ein aktuelles Gutachten der Innungskrankenkassen (IKK). Forscher am WIG2-Institut untersuchten Präventionsanreize im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Gleichzeitig wollten sie bei GKVen das Spannungsfeld zwischen präventiven Aufgaben und der Optimierung eigener Finanzen beleuchten. Ihre Arbeit beruht auf einem Methodenmix. Neben systematischen Literaturrecherchen wurde auch eine retrospektive sekundärdatenbasierte nicht-randomisierte Kontrollgruppenstudie durchgeführt. Insgesamt standen Daten von mehr als sechs Millionen Versicherten zur Verfügung. Von ihnen befanden sich 468.810 Personen in der Präventionsgruppe und weitere 3,1 Millionen in der Gruppe ohne Prävention. Über eine Risikoadjustierung bildeten Wissenschaftler aus der Nicht-Präventionsgruppe eine Kontrollgruppe, die hinsichtlich wichtiger Parameter wie Alter, Geschlecht oder Krankheitslast mit der Präventionsgruppe vergleichbar war.
Für viele Erkrankungen liegen laut WIG2-Institut wissenschaftlich stichhaltige Beweise vor, dass Prävention medizinisch Sinn macht. Bei der Primärprävention besteht Einfluss auf die Gesamtmortalität, das Auftreten von Schlaganfällen, auf Typ-2-Diabetes, auf koronaren Herzerkrankungen (KHK) oder COPD. Als Evidenzgrad geben die Autoren 1 bis 2 an. Sekundärpräventionen durch Lebensstil-Änderungen verringern die Mortalität bei KHK, verhindern Typ-2-Diabetes und tragen dazu bei, schwere COPD zu verhindern. Hier liegt der Evidenzgrad bei 1. Schlechter ist die Sachlage bei Tertiärpräventionen mit einem Evidenzgrad von 2 bis 3. Nach der Literaturarbeit ging es an echte Patientendaten. Zur Analyse der Wirkung von Primärprävention wurden Versicherte ausgewählt, die in 2010 keine für den Morbi-RSA relevante Krankheit hatten. Forscher untersuchten, wie häufig bestimmte Leiden ohne beziehungsweise mit Prävention in den folgenden Jahren auftraten. Unterschiede zeigten sich vor allem bei Typ-2-Diabetes (1,59 versus 1,00 Prozent), COPD (1,34 versus 0,68 Prozent), Hypertonie (5,56 versus 5,25 Prozent), KHK (0,97 versus 0,68 Prozent), Adipositas (0,63 versus 0,40 Prozent), Schlaganfällen (0,09 versus 0,06 Prozent), psychischen Erkrankungen (5,92 versus 5,49 Prozent) oder Krebserkrankungen (1,27 versus 1,56 Prozent). Kein Wunder, dass Kassen für Versicherte mit Prävention im Zeitverlauf rund 70 Euro weniger für Leistungen zahlen mussten als bei Patienten ohne entsprechende Maßnahmen – speziell in den Bereichen Arzneimittel und stationäre Therapien.
Der geringere Anstieg von Leistungsausgaben bei Versicherten mit Prävention wird allerdings durch entgangene Zuweisungen überlagert. Quelle: www.wig2.de „Der Morbi-RSA konterkariert die Bemühungen der Krankenkassen um zielgerichtete Prävention“, sagt IKK-Chef Hans Peter Wollseifer. Medizinisch wünschenswerte Effekte würden nicht belohnt. So zeigen die Analysen, dass Typ-2-Diabetiker ohne Prävention häufiger eine höhere hierarchisierte Morbiditätsgruppe (HMG) entwickelten als Präventionsteilnehmer, nämlich 21,93 versus 19,71 Prozent. Bei KHK wechselten 16,18 versus 14,44 Prozent in höhere HMGs. Für Wollseifer steht außer Frage, dass sich Prävention lohnt. Allerdings würden GKVen „systematisch finanziell bestraft, wenn sie in Prävention investieren“. Ein möglicher Weg aus dem Dilemma wäre, Präventionsanreize im Morbi-RSA zu verstärken. Die unangemessen starke Berücksichtigung von Volkskrankheiten müsse zurückgenommen werden, erklärt er weiter. Aber auch pauschal kalkulierte Präventionsausgaben stehen auf dem Prüfstand. Versicherungsmathematiker wünschen sich Zuweisungen anhand realer Ausgaben.
Damit ist es nicht getan. Jetzt haben sich insgesamt 12 gesetzliche Krankenkassen zu einer „RSA-Allianz“ zusammengeschlossen. Gemeinsam fordern sie umfassende Reformen. Lutz Stroppe, beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit, machte Ende 2015 jedoch klar, sein Haus plane aktuell keine Reformen. Vielmehr wolle man weitere Gutachten abwarten.