Bei Übergewichtigen setzt das Sättigungsgefühl erst spät ein. Ein neu entdecktes Molekül, das im zentralen Nervensystem die Wirkung des Sättigungshormons Leptin steuert, könnte Ansatzpunkt für zukünftige Therapien adipöser Menschen sein.
Viele übergewichtige Menschen versuchen immer wieder abzunehmen. Doch den wenigsten gelingt es, dauerhaft ihr Körpergewicht zu verringern. Die meisten Diäten zeigen nur einen kurzfristigen Erfolg, insbesondere wenn eine nachhaltige Umstellung der Lebens- und Essgewohnheiten ausbleibt. Doch in den vergangenen Jahren wurde immer klarer, dass Abnehmen nicht nur eine Willensfrage ist. Ein komplexes Netzwerk von unterschiedlichen Molekülen steuert die Nahrungsaufnahme und die Aufrechterhaltung des Körpergewichts. Gerät diese Regulation außer Takt, kann eine dauerhafte Gewichtszunahme die Folge sein, die sich nur schwer rückgängig machen lässt. Ein Forscherteam des Helmholtz-Zentrums München ist nun einem weiteren Molekül auf die Schliche gekommen, das im Tiermodell eine wichtige Rolle bei der Regulation des Körpergewichts spielt. Wie die Wissenschaftler um Paul Pfluger in einem Artikel im Fachblatt Nature Communications berichten, beeinflusst das Enzym Histon-Deacetylase 5 (HDAC5) die Wirkung des Hormons Leptin, das dem Körper hilft, sich auf Veränderungen im Nahrungsangebot anzupassen. Leptin wird vom Fettgewebe in direkter Korrelation zur Fettmasse freigesetzt. Das Hormon signalisiert dem Gehirn, dass die Fettspeicher voll sind und reduziert die Nahrungsaufnahme.
„Vor allem in Hypothalamus werden durch Leptin spezielle Signalkaskaden aktiviert, die dem Körper sagen, dass er satt ist und aufhören soll zu essen, erklärt Pfluger, Leiter der Abteilung Neurobiologie des Diabetes am Institut für Diabetes und Adipositas des Helmholtz Zentrums München. Wird dieses Signal immer wieder ignoriert und mehr Nahrung aufgenommen als nötig, verliert Leptin seine Wirkung und das Sättigungsgefühl setzt dauerhaft aus. „Die bei adipösen Menschen vorkommende Leptinresistenz stellt ein großes Problem dar, da sie beim Abnehmen nicht verschwindet und so einen längeren Erfolg von kalorienrestriktiven Diäten verhindert“, so Pfluger. Um herauszufinden, auf welche Weise die Sensitivität für Leptin verloren geht, fahndeten er und sein Team nach molekularen Mitspielern, die bei diesem Prozess beteiligt sind. Aus früheren Studien war bereits bekannt, dass HDAC5 nicht nur in Muskel- und Fettgewebe bei der Regulation des Stoffwechsels eine Rolle spielt, sondern auch in Neuronen des Hypothalamus vorkommt. Die Münchner Forscher untersuchten zuerst Mäuse, deren Übergewicht und Leptinresistenz durch eine fettreiche Ernährung verursacht worden war. Dabei stellten sie fest, dass in den Neuronen des Hypothalamus HDAC5 in verringerter Menge produziert wurde.
Auch in Mäusen ohne funktionsfähiges Leptin konnte Pflugers Team die gleiche Beobachtung machen. Wenn die Forscher diesen Mäusen Leptin spritzten, erhöhte sich die Menge an HDAC5 im Hypothalamus. Auch bei normalen, leptinsensitiven Mäusen, die sich nach einer Fastenperiode wieder fettreich ernähren konnten, kam es zu einem Anstieg der HDAC5-Konzentration. „Die Produktionsrate und Aktivität von HDAC5 im Hypothalamus, der Schaltzentrale für den Energiehaushalt, erhöht sich durch fettreiche Ernährung und die Freisetzung von Leptin, wird aber geringer, wenn das Sättigungshormon fehlt oder dessen Wirkung verloren geht“, sagt Pfluger. Leptin kann seine Aufgabe aber nur erfüllen, wenn HDAC5 vorhanden ist: Mäuse ohne funktionsfähiges HDAC5 fraßen sehr viel und wurden sehr dick; zusätzliche Injektionen von Leptin blieben ohne Effekt auf das Körpergewicht. Leptin reguliert das Körpergewicht mithilfe des Transkriptionsfaktors STAT3: Sobald das Sättigungshormon an Neuronen des Hypothalamus andockt, wird STAT3 chemisch modifiziert, wandert in den Zellkern und aktiviert dort bestimmte Gene, die notwendig sind, um das Sättigungsgefühl auszulösen und die Nahrungsaufnahme zu beenden.
Dabei darf HDAC5 nicht fehlen, wie die Forscher um Pfluger in weiteren Experimenten zeigen konnten. Nur wenn HDAC5 den Transkriptionsfaktor ebenfalls chemisch modifiziert, kann dieser seine gewünschte Wirkung entfalten. Bei Mäusen ohne funktionsfähiges HDAC5 blieb deshalb die Aktivierung von STAT3 aus und die für eine Senkung der Nahrungsaufnahme benötigten Verhaltensprogramme konnten nicht gestartet werden. Wenn Pfluger und sein Team dagegen Mäuse mithilfe einer gentechnischen Methode so veränderten, dass diese im Hypothalamus mehr HDAC5 als normal produzierten, aßen die so behandelten Tiere weniger und wurden auch weniger schnell leptinresistent. Hier sieht Pfluger einen Ansatzpunkt für zukünftige Therapien, die adipösen Menschen dabei helfen könnten, ihr Körpergewicht dauerhaft zu reduzieren: „Wenn wir es schaffen, pharmakologisch den HDAC5-Spiegel im Hypothalamus von übergewichtigen Patienten zu erhöhen, könnte Leptin wieder wirken und das Sättigungsgefühl schneller einsetzen“, findet der Forscher. „Ähnlich wie dicke Mäuse entwickeln auch dicke Menschen eine Leptinresistenz, die bestehen bleibt, wenn die Betroffenen ihr Gewicht verringern.“ Das, so Pfluger, sei ein ernstes Problem und trage maßgeblich zum berüchtigten Jo-Jo-Effekt bei, der zu einer unerwünschten und schnellen Gewichtszunahme nach Diäten führe.
Pfluger sieht in der Wiederherstellung der Leptinsensitivität einen der wichtigsten Schritte auf dem Weg zur nachhaltigen Gewichtsreduktion und der Bekämpfung von möglichen Folgeerkrankungen des Übergewichts wie etwa Typ-2-Diabetes. Doch nach Ansicht des Forschers wird es eine Wunderpille für adipöse Menschen nicht geben. Nach wie vor unabdingbar für einen Erfolg bleibt die Bereitschaft der Betroffenen, ihren Ernährungs- und Lebensstil radikal umzustellen. Andere Experten halten die neuen Ergebnisse der Münchner Forscher für äußerst spannend: „Die Studie liefert einen neuen molekularen Mitspieler, der an entscheidender Stelle des Leptin-Signalwegs das Sättigungsgefühl steuert“, sagte André Kleinridders, Leiter der Arbeitsgruppe Zentrale Regulation des Stoffwechsels am Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke. Noch sei es aber zu früh, auf Substanzen zu hoffen, die gezielt die HDAC5-Produktion im Hypothalamus beeinflussen könnten. „Wir wissen immer noch viel zu wenig darüber, wie die vielen an der Gewichtsregulation beteiligten Moleküle und Zelltypen in dieser Gehirnregion miteinander wechselwirken und sich gegenseitig beeinflussen“, meint Kleinridders. „Um unerwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden, müssen die zugrundeliegenden Mechanismen noch genauer erforscht werden, damit man pharmakologisch in diese körpereigene Steuerung des Sättigungsgefühls und Nahrungsaufnahme eingreifen kann.“
Bis solche Medikamente tatsächlich verfügbar sind, setzt Kleinridders auf andere Maßnahmen, um die rasante Verbreitung von Adipositas und Typ-2-Diabetes in den Griff zu bekommen: Er befürwortet eine spezielle Kennzeichnung von besonders fett- und zuckerhaltigen Lebensmitteln und plädiert insbesondere für eine bessere Aufklärung über die Zusammenhänge von gesunder Ernährung und Körpergewicht bereits in Kindergärten und Schulen. Originalpublikation: Hypothalamic leptin action is mediated by histone deacetylase 5 Dhiraj G. Kabra et al.; Nat Commun., doi: 10.1038/ncomms10782; 2016