Der Deutsche Ethikrat macht darauf aufmerksam, dass es in deutschen Krankenhäusern allem voran um das Patientenwohl zu gehen habe. Wirklich? Was wie ein schlechter Scherz klingt, ist auf den zweiten Blick wirklich wichtig.
Im Krankenhaus, schrieb der Deutsche Ethikrat vergangene Woche, soll es fortan wieder vordergründig um das Wohl des Patienten gehen. Dass der Ethikrat darauf hinweist, ist schon allerhand. Darf man denn nicht mehr wie selbstverständlich annehmen, dass es in deutschen Krankenhäusern darum geht, Patienten zu pflegen, zu päppeln und zu heilen, genau wie es dem Förster um einen gesunden Wald und der Uni um einen vollen Kopf geht? Anders herum gefragt: Woran orientiert sich die Arbeit in deutschen Krankenhäusern denn sonst? Sie orientiert sich, antwortet der Ethikrat in seiner Stellungnahme, zunehmend und zu einem inakzeptablen Maße an betriebswirtschaftlichen Parametern. Diese Antwort ist nicht neu, sie aus dem Munde des höchsten bioethischen Gremiums Deutschland zu hören, ist dennoch erstaunlich. Es zeigt, wie weit die „Ökonomisierung“ des deutschen Gesundheitssystems bereits fortgeschritten ist. Im Klinikalltag kann man das schon als Student im Praktischen Jahr erfahren. Allenthalben wird man „gebraucht“ und nicht „unterrichtet“. Manchen Tag bekommt man es mit der Angst zu tun, am ersten Arbeitstag als Assistenzarzt zwar Flexülen legen zu können, aber von Therapieplänen und Medikamentenwechselwirkungen eigentlich keine Ahnung zu haben. Schuld daran ist selten fehlendes persönliches Engagement der Stations- und Oberärzte, sondern vielmehr ein bis ins Schmerzhafte gestraffter Personalschlüssel und Dienstplan. Und das kann absurde Blüten tragen: Ein Kollege meldet sich krank, woraufhin der Chefarzt in der Morgenbesprechung die Ärzte anweist, dass sie heute kräftig über die Stationen rotieren müssen. Im selben Atemzug jedoch kündigt er an, dass ein Stellenabbau droht, weil die Liegedauer der Patienten zu hoch und die Auslastung der Stationen zu gering ist. Leidet, fragt man sich da, darunter nicht zwangsläufig die Behandlungsqualität?
Ja, das tut sie, hat auch der Ethikrat erkannt und sie als eine der drei Säulen des Patientenwohls vorgeschlagen. Objektive Kriterien wie der Behandlungserfolg und die Wiederherstellung von Funktionalität sollen ebenso berücksichtigt werden wie die Patientenzufriedenheit. Eine weitere Säule beschreibt der etwas sperrige Begriff der „selbstbestimmungserhaltenden Sorge“. Pflege und Ärzteschaft, so stellt es sich der Ethikrat vor, sollen alles dafür tun, die Selbstbestimmung des Patienten zu fördern. Das könne nur über eine gelungene Kommunikation geschehen. Für die wiederum bedarf es genügend Zeit, aber auch Weiterbildungen, um Einfühlungsvermögen und interkulturelle Kompetenzen zu stärken. Gelingt die Kommunikation nämlich nicht, habe das „menschlich verletzende, diskriminierende, [...] aber auch ökonomisch relevante Folgen“. Wenn im Klinikalltag nämlich wieder einmal keine Zeit für ein längeres Gespräch zwischen Arzt und Patient war und der Patient unreflektiert die Therapievorschläge des Arztes annimmt, sie aber eigentlich nicht verstanden hat, landet er eben oft genug wieder im Krankenhaus. Dass das weder für die Gesundheit des Patienten noch für den Etat der Krankenkassen besonders gut ist, liegt auf der Hand. Als letzte Grundlage des Patientenwohls macht der Ethikrat die gerechte Verteilung der Ressourcen aus. Diese dürfe allerdings nicht mit „Ökonomisierung“ verwechselt werden. Denn während es aus medizinethischer Sicht geboten ist, mit begrenzten Ressourcen effizient und sparsam umzugehen, dürfe das Handeln des Arztes eben nicht allein auf ökonomischen Überlegungen fußen. Überversorgung, wie manche medizinisch fragwürdigen invasiven Eingriffe, die für das Krankenhaus äußerst lukrativ sind, schließt das eigentlich ebenso aus wie Unterversorgung, weil bestimmte Behandlungen nicht ordentlich vergütet werden. Einen Patienten aus ökonomischen Gründen vorschnell zu entlassen oder die Kinderheilkunde eines Kreiskrankenhauses zu schließen, weil sie rote Zahlen schreibt, ist ethisch nicht vertretbar.
Dass Theorie und Praxis so weit auseinander klaffen, zeigt wie wichtig es ist, auf das Patientenwohl als ethischen Maßstab einmal lauthals aufmerksam zu machen. Das ist die Stärke des Berichtes, den der Ethikrat vorgelegt hat. Er mag zwar die Frustration schüren, die viele Ärzte spüren, weil der eigene Berufsethos im Klinikalltag oftmals untergeht. Auf der anderen Seite kann der Bericht hier vielleicht ein wenig trösten. Noch gibt es Institutionen, die der Politik ins Gewissen reden. Die Frage bleibt nur: Was wird sich jetzt ändern? Neben großen Ansprüchen an die Arbeit von Ärzten und Pflegern in Krankenhäusern enthält die Stellungnahme zumindest einige konkrete Vorschläge an den Bundestag. Der Ethikrat wünscht sich eine zusätzliche Vergütung für Patienten, mit denen die Kommunikation sich sehr schwer gestaltet, weil sie dement sind oder eine Sprachbarriere herrscht. Auch soll die oftmals sehr raumgreifende Dokumentation erleichtert und digitalisiert werden und Messinstrumente für eine gute, am Patientenwohl orientierte, Krankenhausversorgung entwickelt werden. Dafür sollen zum Beispiel Minimalbesetzungen für die Pflege gesetzlich festgelegt werden. Das ist gut, auch wenn man vergebens nach einem Vorschlag für ärztliche Personalschlüssel sucht. Zudem soll es bei multimorbiden Patienten in Zukunft möglich sein, mehrere DRG-Hauptdiagnosen für einen Aufenthalt zu vergeben, damit sie nicht unter Strapazen entlassen und wieder aufgenommen werden müssen. Das DRG-System, schreibt Michael Wunder, ein Mitglied des Ethikrates, sei „lernfähig“. Aber reicht das? Müssen wir nicht auch darüber sprechen, die in den letzten 20 Jahren massenhaft privatisierten Krankenhäuser wieder in die Hände der Städte und Gemeinden zu überführen? Oder das DRG-System doch gänzlich wieder abzuschaffen? Wer den Bericht des Ethikrates liest, findet zwischen den Zeilen gewisse Sympathien dafür. Das DRG-System abzuschaffen, schreibt Michael Wunder, werde „in der Praxis [immer wieder] diskutiert“.