Schon im Mutterleib verstehen wir einzelne Laute. Von da an entwickelt sich Sprache im Laufe unseres Lebens scheinbar widersinnig: Viele Meilensteine erreichen wir in rasanter Geschwindigkeit in den ersten Lebensjahren, andere liegen dagegen bis ins Erwachsenenalter in weiter Ferne.
Es mag paradox erscheinen: Einerseits können bereits Neugeborene einzelne Silben wie „ma“ und „pa“ akustisch voneinander unterscheiden und Dreijährige schon einfache Sätze mühelos verstehen. Andererseits dauert es bis ins Erwachsenenalter, ehe wir komplizierte Formulierungen ohne Probleme begreifen können, selbst wenn diese aus einfachen Wörtern zusammengesetzt sind. Neurowissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften haben eine Erklärung für dieses Phänomen gefunden: „Die für die Verarbeitung von Sprache zuständigen Hirnareale und die Verbindungen zwischen ihnen, eine Art Datenautobahnen, reifen unterschiedlich schnell heran“, so Angela D. Friederici, Direktorin des Leipziger Max-Planck-Instituts. Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelten sie und ihr Team ein umfassendes Modell über den Werdegang der einzelnen Hirnbereiche zur Verarbeitung von Sprache – vom kleinkindlichen hin zum erwachsenen Gehirn. Demnach ist insbesondere ein bestimmter Bereich des Großhirns von Anfang an an der Sprachverarbeitung beteiligt: Der linke Schläfenlappen des Großhirns. Er hilft uns von klein auf, hochautomatisch in wenigen Millisekunden „Mama“ von „Papa“ zu unterscheiden. Auch einfache Sätze aus wenigen Wörtern können hier bereits verarbeitet werden. Etwa bis zum dritten Lebensjahr ist der Schläfenlappen damit das Epizentrum unserer Sprache.
Erst danach gesellt sich langsam eine zweite zentrale Sprachregion als Teil des gesamten Sprachnetzwerkes dazu: das Broca-Areal im Stirnbereich unseres Großhirns. Hier wird vor allem komplexe sprachliche Information verarbeitet. Deutlich wird dieser Entwicklungsschritt beim Satzverstehen. Schon früh wird der Satz „Der Fuchs jagt den Igel“ problemlos verstanden. Fuchs jagt Igel, klar! Allerdings führt der Satz „Den Igel jagt der Fuchs“ zu Missverständnissen bei den Kleinen. Denn die einfache Wortfolge Igel-jagt-Fuchs interpretieren sie noch falsch, da sie die grammatische Bedeutung von „der“ und „den“ noch nicht voneinander unterscheiden können. Doch nur so kann identifiziert werden, wer tut was wem. Von Erwachsenen werden beide Sätze in gleicher Geschwindigkeit erfasst und richtig interpretiert.
Mit zunehmendem Alter wird das Broca-Areal nicht nur stärker aktiviert, während wir Sätze verarbeiten, sondern auch mehr und mehr in das gesamte Sprachnetzwerk eingebunden. Entscheidend dafür ist ein Bündel aus Nervenfasern, das die Verbindungsbahn zwischen diesen beiden Sprachzentren, dem linken Schläfenlappen und dem Broca-Areal, bildet: der Fasciculus Arcuatus. Erst wenn dieses Bündel von Nervenfasern vollkommen ausgereift ist, können kompliziertere Formulierungen genauso gut und schnell verarbeitet werden wie einfache. Und das dauert ungefähr bis zum Ende der Pubertät. Denn ähnlich wie der Kupferdraht eines Stromkabels mit Kunststoff umhüllt ist, bildet sich im Laufe der Entwicklung um jede Nervenfaser ein dicke Myelinschicht, durch die die elektrischen Signale mit möglichst wenigen Verlusten in hoher Geschwindigkeit übertragen werden können. „Wir konnten erstmals zeigen, dass schwierige Sätze umso besser verarbeitet werden, je weiter entwickelt diese Faserverbindung, der Fasciculus Arcuatus, ist“, so Michael Skeide, der an der Entwicklung des Modells maßgeblich beteiligt war. „Unsere Erkenntnisse zeigen umso eindringlicher, dass Sprache wesentlich mehr ist, als die Verarbeitung akustischer Signale. Vielmehr ist es die Fähigkeit, Wörter nach bestimmten Regeln zu kombinieren und Sätze mit bestimmten Bedeutungen zu assoziieren“, so die Sprachforscherin Friederici. Diese vollends zu entfalten, dauere bis ins Erwachsenenalter. Erst dann seien die notwendigen Hirnstrukturen vollständig ausgereift.
„Unser Wissen, wie das Gehirn die Fähigkeit entwickelt, auch kompliziertere Sprache zu verarbeiten, war lange Zeit lückenhaft. Lange schien es unmöglich, in das Gehirn von Kleinkindern zu schauen, während es Sprache verarbeitet“, so Angela Friederici. Denn die Methode der Magnetresonanztomografie (MRT) galt als nicht anwendbar für die Kleinen – insbesondere, weil es ihnen schwer fällt, ihren Kopf während der Aufnahmen ruhig zu halten. Friederici und ihrem Team ist dennoch genau das gelungen: MRT-Messungen so weiterzuentwickeln, dass selbst ein Blick in das Gehirn von Dreijährigen möglich wird. Die entscheidende Idee war dabei, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und das Stillhalten mit den Kleinen spielerisch zu üben, während sie einen Trickfilm schauen. „Erst diese Methode ebnete den Weg zu unserem heutigen Verständnis über die Entwicklung unseres Sprachnetzwerkes“, fügt sie hinzu. Originalpublikation: The ontogeny of the cortical language network Michael A. Skeide et al.; Nature Reviews Neuroscience, doi: 10.1038/nrn.2016.23, 2016