Ärzte und Krankenkassen raten Patienten, Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch zu nehmen. Aber nicht jede Erkrankung lässt sich sinnvoll anhand von Tests erkennen – und nicht immer profitieren Patienten von Tests. Sind manche Screenings einfach nur unsinnig oder sogar gefährlich?
Von Geburt an haben gesetzlich Versicherte in Deutschland Anspruch auf etliche Vorsorgeuntersuchungen. Mit Screenings suchen Ärzte nach Krebserkrankungen, Infektionen, Stoffwechsel-, Herz-Kreislauf- oder Nierenerkrankungen. Alle Tests werden auf ihre Sinnhaftigkeit geprüft und zwar anhand folgender Kriterien:
Aber nicht jede Erkrankung lässt sich sinnvoll über Tests erkennen – und nicht immer profitieren Patienten von Tests. Wo liegen die Grenzen?
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO steht die chronisch-obstruktive Bronchitis an vierter Stelle der Todesursachen. Viele Menschen, vor allem Raucher, ignorieren frühe Zeichen. Dazu zählen regelmäßiger Husten, Auswurf oder Kurzatmigkeit. COPD ist nicht heilbar, die Progression kann aber verlangsamt werden. Umso wichtiger wäre eine frühe Diagnose. Wie hoch die Dunkelziffer an unentdeckten Fällen ist zeigt Andrea S. Gershon von der University of Toronto. Sie ist Pneumologin und untersuchte mittels Spirometrie eine Kohorte mit 1.403 Personen. Die zufällig ausgewählten Teilnehmer waren 40 Jahre alt oder älter. Das Ergebnis:
Der Knackpunkt: Jenseits klinischer Studien lassen sich keine größeren Populationen per Spirometrie untersuchen. Deshalb überprüfte Kate M. Johnson von der University of British Columbia, Vancouver, die Idee, typische Symptome für Screenings zu nutzen. Sie arbeitete mit einer populationsbasierten Stichprobe von 1.332 Personen ab 40 Jahren. Auch wenn die Idee gut war, gelang es der Forscherin nicht, anhand von Husten, Atemnot oder allgemeinem Engegefühl Patienten mit früher COPD zu identifizieren.
Ähnlich hoch ist die Krankheitslast durch Depressionen. Patienten würden von einem Screening profitieren; mögliche Folgen der Erkrankung reichen vom sozialen Rückzug bis zum Suizid. Als Tools wären Fragebögen in hausärztlicher Hand denkbar. Ergeben Scores Hinweise auf Depressionen, ist fachärztliche Expertise gefragt. Das klingt einfach, aber wie sieht es mit der Evidenz aus? Das fragten sich auch Forscher des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und durchforsteten die entsprechende wissenschaftliche Literatur. Für ihren Abschlussbericht werteten sie sieben prospektive Interventionsstudien aus, ohne wirklich große Erkenntnisse zu gewinnen. „In kaum einem westlichen Land sucht man aktiv mittels Screening nach Depressionen, weil die Datenlage hierfür nicht ausreicht", fasst IQWiG-Experte Stefan Sauerland den Stand der Forschung in einer Meldung zusammen.
Auch in B-Streptokokken-Screenings für Schwangere sieht das iQWiG derzeit wenig Sinn. Bei knapp 20 Prozent aller werdenden Mütter sind Vagina oder Anus besiedelt. Infizieren sich Babys während der Geburt, droht eine Sepsis oder eine Meningitis. Deshalb empfiehlt die Leitlinie der deutschen Fachgesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe einen Test am Ende der Schwangerschaft und gegebenenfalls eine Antibiotikatherapie während der Geburt. Mehrere Krankenkassen bezahlen die Untersuchung freiwillig, ansonsten handelt es sich um eine IGeL-Leistung. Andere Länder, die Screenings finanzieren, berufen sich auf eine alte Kohortenstudie. Dabei wurde eine Screening-Gruppe mit einer risikostratifizierten Gruppe verglichen. Zu den bekannten Risikofaktoren für B-Streptokokken gehören u.a. Fieber, drohende Frühgeburten oder Infektionen mit dem Keim in der Vorgeschichte. „Das routinemäßige Screening auf Streptokokken der Gruppe B während der Schwangerschaft verhindert mehr Fälle von Frühkrankheiten als der risikobasierte Ansatz“, heißt es im Kommentar zur Studie. Das IQWiG wiederum kritisiert, die Studie sei nicht prospektiv angelegt worden. Vielmehr hätten Forscher Teilnehmerinnen nachträglich einer der beiden Gruppen zugeordnet. Frauen mit B-Streptokokken-Test erhielten auch mehr Vorsorgeleistungen. Deshalb wurde die einzige interessante Studie ausgeschlossen. Weitere aussagekräftige Veröffentlichungen gibt es nicht.
Screenings verfolgen uns auch zu späteren Zeiten. Laut G-BA haben Frauen ab dem Alter von 50 Jahren bis einschließlich 69 alle 24 Monate Anspruch auf Mammographien. Ältere Patientinnen ärgern sich über Altersgrenzen nach oben. Aus wissenschaftlicher Sicht sind solche Vorgaben aber sinnvoll, schreibt Victoria Tang von der University of California. Entdecken Ärzte beim Screening einen Tumor, greifen sie zum Skalpell. Und das hat für Frauen verheerende Folgen. Ihre Kohorte umfasste 5.969 Brustkrebs-Patientinnen aus Pflegeheimen. Sie waren durchschnittlich 82 Jahre alt. 666 (11,2 Prozent) wurden per Lumpektomie, 1.642 (27,5 Prozent) per Mastektomie und 3.661 (61,3 Prozent) per Lumpektomie oder Mastektomie mit axillärer Lymphknotendissektion behandelt. Die 30-Tage-Mortalität lag bei 8 Prozent (Lumpektomie), 4 Prozent (Mastektomie) und 2 Prozent (Lumpektomie oder Mastektomie mit axillärer Lymphknotendissektion). Als Ein-Jahres-Sterblichkeit gibt Tang 41 versus 30 versus 29 Prozent an. Wer überlebte, hatte eine funktionelle Abnahme von durchschnittlich 56 % bis 60 %. Über histologische Details macht die Erstautorin keine Aussagen. Sie vermutet trotzdem, ohne OP hätten einige Patientinnen deutlich länger gelebt.
Bleibt als Fazit: Für Screenings ist der alte Spruch „primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare“ (erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen) mehr als zutreffend. Ohne einen nachgewiesenen Nutzen ist jede Untersuchung per se als negativ zu betrachten, da sie weitere Tests und Eingriffe nach sich zieht. Gut gemeint ist nicht immer gut.