Schwer kranke Patienten im Krankenhaus werden oft großzügig mit Sauerstoff versorgt. Nun hat ein Forscherteam jedoch festgestellt: Eine Überversorgung mit Sauerstoff erhöht die Sterblichkeit von Patienten. Sollte das nicht praktische Konsequenzen haben?
Bei der Akutbehandlung im Krankenhaus oder in der Notaufnahme werden Millionen Patienten weltweit mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt. Dies ist etwa in Großbritannien bei 34 Prozent der Patienten in Ambulanzen, 25 Prozent der Patienten in Notaufnahmen und 15 Prozent der Krankenhauspatienten der Fall. Die Motivation dafür ist klar: Ärzte und Pfleger sorgen sich, dass ein Patient einen Sauerstoffmangel (Hypoxämie) und dadurch körperliche Schäden erleiden könnte. Denn ein anhaltender Sauerstoffmangel kann lebensbedrohlich sein und zu Bewusstlosigkeit und Kreislaufstillstand führen. Allerdings erhalten 50 bis 84 Prozent der Patienten dabei eine zu hohe Konzentration an Sauerstoff. Dies kann zu einer Sauerstoffüberversorgung (Hyperoxämie) führen, schreiben Derek K. Chu von der McMaster University in Hamilton (Kanada) und sein Team in einem aktuellen Artikel. „Viele Ärzte betrachten die Gabe von Sauerstoff als harmlose und potentiell hilfreiche Therapie – und das unabhängig davon, ob eine Unterversorgung mit Sauerstoff besteht“, heißt es im Text. Eine Sauerstoffüberversorgung kann sich schädlich auf die Patienten auswirken, stellte das kanadisch-neuseeländische Forscherteam nun in einer aktuellen Meta-Analyse fest: Sie erhöht die Sterblichkeit, ohne andere gesundheitliche Parameter signifikant zu verbessern. Dabei kann sich die zusätzliche Sauerstoffgabe bereits schädlich auswirken, wenn die Sauerstoffsättigung im Blut (SpO2) vor der Gabe bei 94 bis 96 Prozent liegt. Die arterielle Sauerstoffsättigung wird dabei mithilfe eines Pulsoximeters gemessen – eineskleinen Clips mit Lichtsensor, der meist am Finger befestigt wird.
Die Ergebnisse hätten wichtige und unmittelbare klinische Konsequenzen, betont John W. McEvoy von der Johns Hopkins School of Medicine in Baltimore (USA) in einem begleitenden Kommentar. „Erwachsene mit akuten Erkrankungen, die im Krankenhaus behandelt werden, haben häufig einen Sauerstoffmangel. Daher ist es natürlich sinnvoll, die Patienten mit zusätzlichem Sauerstoff zu versorgen. Dies kann lebensrettend sein“, sagt der Kardiologe. „Allerdings sollte die Erkenntnis, dass eine Sauerstoffüberversorgung – ähnlich wie eine Unterversorgung – schädliche physiologische Auswirkungen haben kann, unmittelbare Auswirkungen für die klinische Praxis haben.“ In ihrer systematischen Review und Meta-Analyse durchsuchten die Forscher um Chu die Forschungsliteratur von Beginn an bis zum 25. Oktober 2017 nach randomisiert-kontrollierten Studien, in denen bei akut kranken erwachsenen Patienten eine liberale mit einer konservativen Sauerstoffgabe verglichen wurde. Bei einer konservativen Sauerstoffgabe lag der Medianwert der Sauerstoffkonzentration bei 0,21 (mit einem Variationsbereich von 0,21 bis 0,50). In einigen dieser Studien erhielt die Kontrollgruppe über Nasenbrillen oder Atemmasken nur Raumluft. Bei einer liberalen Sauerstoffgabe lag die Konzentration im Median bei 0,52 (mit einem Variationsbereich von 0,28 bis 1). Bei dem Wert handelt es sich um die so genannte inspiratorische Sauerstoff-Fraktion, englisch Fraction of inspired Oxigen (FiO2). Sie beschreibt die Sauerstoffkonzentration im verwendeten Gasgemisch und wird in Dezimalwerten angegeben. Ein Wert von 0,52 entspricht also einem Sauerstoffanteil im Gasgemisch von 52 Prozent. Insgesamt identifizierten die Forscher 25 randomisiert-kontrollierte Studien mit 16.037 Patienten. Diese waren im Schnitt 64 Jahre alt, 64 Prozent von ihnen waren männlich und 36 Prozent weiblich. Die untersuchten Patienten wurden wegen einer Sepsis,Schlaganfällen, Herzinfarkten, Herzstillständen, anderen schweren Erkrankungen oder schweren Verletzungen behandelt oder mussten sich einer Notoperation unterziehen. Sie wurden in den verschiedenen Studien entweder über Nasenbrillen, eine Atemmaske oder mit einem invasiven mechanischen Beatmungssystem beatmet. Die Dauer der Beatmung lag in beiden Bedingungen im Mittel bei acht Stunden.
Im Vergleich zu einer konservativen Sauerstoffgabe war eine liberale Sauerstoffgabe mit einer erhöhten Sterblichkeit verbunden. Die mittlere Ausgangs-Sauerstoffsättigung lag bei den Patienten im Bereich von 94 bis 99 Prozent. Die Sterblichkeit war im Krankenhaus um 21 Prozent, 30 Tage nach der Entlassung um 14 Prozent sowie zum spätesten in den Studien erfassten Follow-Up-Zeitpunkt um zehn Prozent erhöht. Dabei stieg das Sterblichkeitsrisiko mit einer zunehmenden Sauerstoffsättigung im Blut kontinuierlich an. Gleichzeitig unterschieden sich die beiden Gruppen nicht bezüglich der Schwere des Krankheit. Um diese zu erfassen, berücksichtigten die Forscher die Länge des Krankenhausaufenthalts, im Krankenhaus erworbene Lungenentzündungen und Infektionen sowie krankheitsbedingte Einschränkungen zum spätesten Follow-Up-Zeitpunkt. Ein Zuviel an Sauerstoff könnte sich auf verschieden Arten schädlich auswirken. So haben Untersuchungen an Tieren und Menschen gezeigt, dass eine Hyperoxie zu Entzündungen, einer Verengung der Blutgefäße (Vasokonstriktion) und zu oxidativem Stress in Lungen, Herz-Kreislauf-System und Nervensystem führen kann. Weitere Studien legen nahe, dass eine zu hohe Sauerstoffsättigung durch zusätzliche Sauerstoffgabe das Risiko für Lungenversagen, wiederkehrende Herzinfarkte, Herzrhythmusstörungen und Organversagen erhöht. Die aktuelle Untersuchung sei die erste hochqualitative Studie, die klar belege, dass eine Überversorgung mit Sauerstoff lebensbedrohlich sein könne, betonen Chu und sein Team. „Angesichts der Tatsache, dass zusätzlicher Sauerstoff weltweit routinemäßig eingesetzt wird, haben die Ergebnisse wichtige und unmittelbare Konsequenzen für die klinische Praxis“, schreiben die Forscher. Dazu gehöre zunächst, dass Ärzte und andere Mitarbeiter im Gesundheitssystem, aber auch politische Entscheidungsträger sich bewusstsein sollten, dass eine Überversorgung mit Sauerstoff schädlich sein kann.
Weiterhin seien bisherige Leitlinien zum Einsatz von Sauerstoff bei unterschiedlichen akuten Erkrankungen widersprüchlich und würden nicht auf Studien mit hoher wissenschaftlicher Evidenz basieren. „Um eine sichere Versorgung mit Sauerstoff zu gewährleisten, ist es deshalb im nächsten Schritt wichtig, eine Obergrenze für eine akzeptable Sauerstoffsättigung im Blut zu definieren“, sagt Chu. „Unsere Daten legen nahe, dass diese Obergrenze bei einer Sauerstoffsättigung von 94 bis 96 Prozent liegt. Wenn die Sauerstoffsättigung bei einem Patienten beispielsweise stabil bei 92 oder 94 Prozent liegt, könnte es sinnvoller sein, keinen zusätzlichen Sauerstoff zu geben.“ Der Bereich, in dem die optimale Sauerstoffsättigung liegen sollte, wird von verschiedenen Fachgesellschaften bisher uneinheitlich definiert. So empfiehlt die Leitlinie der Thoracic Society of Australia und New Zealand von 2015 eine Sauerstoffsättigung von 92 bis 96 Prozent, während die British Thoracic Society empfiehlt, dass diese bei den meisten Patienten bei 94 bis 98 Prozent und nur bei Patienten mit erhöhtem Risiko für einen Atemstillstand, etwa Patienten mit einer chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD), bei 88 bis 92 Prozent liegen sollte. Die deutsche Leitlinie „Invasive Beatmung und Einsatz extrakorporaler Verfahren bei akuter respiratorischer Insuffizienz“ rät, bei invasiv beatmeten Patienten eine Sauerstoffsättigung von 90 bis 94 Prozent zu erreichen. Weitgehende Einigkeit herrscht bisher nur darüber, was als Sauerstoffmangel angesehen wird: nämlich eine Sauerstoffsättigung von unter 90 Prozent.
Eine liberale Versorgung mit Sauerstoff könnte in bestimmten klinischen Situationen, etwa bei Operationen, durchaus von Nutzen sein, so McEvoy. Darüber sind sich auch das Centers for Disease Control (CDC) und die WHO einig. Sie empfehlen derzeit eine erhöhte Sauerstoffversorgung während und unmittelbar nach Operationen, um das Risiko von Wundinfektionen zu vermindern. „Unsere Daten werfen jedoch Fragen auf, was den Nutzen und die Risiken einer Überversorgung mit Sauerstoff während und nach Operationen angeht“, schreiben Chu und sein Team. „Es sind weitere Studien notwendig, um einen optimalen Bereich der Sauerstoffsättigung zu finden, bei dem der Nutzen einer zusätzlichen Sauerstoffversorgung maximiert und mögliche Schäden minimiert werden. Wir müssen noch viel darüber lernen, was genau ‚zu niedrig‘, ‚normal‘ und ‚zu hoch‘ bedeutet“, sagt Chu. „Dies ist eine komplexe Fragestellung, denn die Sauerstoffsättigung, die wir bei gesunden Erwachsenen sehen, ist nicht unbedingt die gleiche, die bei akut kranken Patienten als sicher anzusehen ist.“