Erfahren schwangere Frauen, dass ihr ungeborenes Kind einen offenen Rücken hat, entscheiden sie sich meist für einen Abbruch. Dies passiert fast immer erst nach der 20. SSW. Eine Studie zeigt, dass sich mit hochauflösendem Ultraschall die Fehlbildung viel früher feststellen lässt.
Die vierte Schwangerschaftswoche (SSW) ist entscheidend. In dieser Zeit schließt sich das Neuralrohr des Embryos, aus dem später das Rückenmark und das Gehirn hervorgehen. Läuft dieser Prozess nicht korrekt ab, kann es zu einem offenen Rücken (Spina bifida aperta) und Fehlbildungen des Gehirns kommen. Hauptursache ist ein ernährungsbedingter Folsäuremangel, aber auch chromosomale Störungen können dafür verantwortlich sein. In Deutschland treten Neuralrohrdefekte bei rund einem von 1.000 Ungeborenen auf. Fast immer werden sie bei der zweiten Vorsorge-Ultraschalluntersuchung zwischen der 19. und 23. Schwangerschaftswoche festgestellt. Dann ist es möglich, Fehlbildungen am Rücken direkt im Ultraschall zu erkennen.
Da bei diesen Defekten mit teils erheblichen körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen zu rechnen ist, entschließen sich bis zu 90 Prozent der Eltern zu einem vorzeitigen Schwangerschaftsabbruch. Dieser ist auch nach der 12. Schwangerschaftswoche rechtlich zulässig, wenn – wie bei der Diagnose eines offenen Rückens – absehbar ist, dass die Fortsetzung der Schwangerschaft die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren stark gefährden würde, also eine medizinische Indikation vorliegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind bei einem solchen Schwangerschaftsabbruch lebend zur Welt kommt, wird nach der 20. Woche umso größer, je später dieser stattfindet. Insbesondere ab 22 vollendeten Wochen wird vor der Geburtseinleitung deshalb ein Fetozid dringend empfohlen: Mit dem Einverständnis der Schwangeren injiziert der behandelnde Arzt in die Nabelvene, ins Herz des Ungeborenen oder in das Fruchtwasser ein Medikament, das zum Herzstillstand führt. Ein Vorgang, der nicht nur die Schwangere und deren Familienangehörige, sondern auch alle anderen Beteiligten seelisch belastet. „Ein Schwangerschaftsabbruch ist körperlich und psychisch umso belastender, je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten ist“, sagt Wolfgang Henrich, Chefarzt der Kliniken für Geburtsmedizin der Berliner Charité.
Henrich und weitere Mediziner haben nun in einer prospektiven Studie gezeigt, dass es mithilfe hochauflösender Ultraschall-Technik möglich ist, einen offenen Rücken bereits im ersten Schwangerschaftsdrittel zu entdecken. Wie das Forscherteam in einem Artikel [Paywall] in der Fachzeitschrift Ultraschall in der Medizin berichtet, hilft die Analyse von bestimmten Merkmalen in der hinteren Schädelgrube des Feten, die richtige Diagnose zu stellen. Schon vor einigen Jahren hatten Wissenschaftler in Studien herausgefunden, dass das Fehlen des vierten Hirnventrikels oder der Cisterna magna im Ultraschall gegen Ende des ersten Schwangerschaftsdrittels einen frühen Hinweis auf einen offenen Rücken geben kann. Henrichs Team konnte für die aktuelle Studie 20 ausgewiesene Ultraschall-Experten gewinnen, die alle in Berlin praktizieren. Diese untersuchten insgesamt 16.164 Ungeborene von 15.525 Schwangeren, die sich zur ersten Vorsorge-Ultraschalluntersuchung zwischen der 12. und 14. Schwangerschaftswoche vorgestellt hatten. Dabei maßen die Ärzte bei den Ungeborenen verschiedene Parameter im Bereich der hinteren Schädelgrube. Sie fanden bei acht Kindern eindeutige, für einen offenen Rücken sprechende Auffälligkeiten; bei drei weiteren bestand ein dringender Verdacht auf diesen Befund. Bei allen diesen Kindern waren der vierte Hirnventrikel und die Cisterna magna entweder gar nicht vorhanden oder nur ungenügend ausgeprägt.
Die Mütter der betroffenen Kinder wurden in der 16. Schwangerschaftswoche für eine zusätzliche Ultraschalluntersuchung einbestellt. Bei allen Kindern bestätigte sich dabei die Diagnose. Neun von elf betroffenen Schwangeren entschieden sich für einen Abbruch der Schwangerschaft vor der 20. Woche. „Für die Eltern ist eine frühere Diagnose von Vorteil“, findet Henrich. „Sie haben dann, wenn sie sich nach einer ausführlichen Beratung für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden sollten, genügend Zeit, einen Fetozid beziehungsweise einen Spätabbruch zu vermeiden.“ Die Beratung, so der Mediziner, sei non-direktiv, aber nicht ergebnisoffen. Die Frauen würden über die Symptome des offenen Rückens und die damit verbundenen Konsequenzen für die Lebensqualität aufgeklärt. Henrich: „In Abhängigkeit von der Lokalisation und Größe der Fehlbildung benötigen die meisten Kinder einen Shunt zur Ableitung des Liquors. Sie können häufig nicht laufen und sind inkontinent.“ Andere Experten halten die Ergebnisse von Henrichs Team für wegweisend: „Wenn man die Fehlbildung früher erkennt, wird das Leiden der betroffenen Frauen reduziert, da die Bindung zum Ungeborenen umso größer ist, je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten ist. Ein Abbruch ist weniger traumatisch für die Schwangere, je früher er stattfindet“, sagt Boris Tutschek, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe in Zürich und außerplanmäßiger Professor der Medizinischen Fakultät der Universität Düsseldorf. „Späte Schwangerschaftsabbrüche stellen immer eine extrem schwierige Situation dar. Schon wenn sich ein solcher Fall verhindern lässt, ist das ein großer Erfolg.“
Eine frühe Diagnose des offenen Rückens eröffnet künftig womöglich auch neue Therapieoptionen. Bislang werden Kinder mit offenem Rücken direkt nach der Geburt behandelt. Allerdings ist dann die Schädigung der offen liegenden Nervenbahnen bereits weit fortgeschritten. Deshalb versuchen Ärzte seit einigen Jahren, die Kinder schon im Mutterleib zu operieren. Doch diese Therapieoption befindet sich noch weitgehend im experimentellen Stadium. „Der offene Eingriff an der Mutter ist hoch anspruchsvoll und birgt ein hohes Risiko an Komplikationen, zum Beispiel erhöht sich dadurch das Risiko einer Frühgeburt“, gibt Henrich zu bedenken. Über die langfristigen Erfolgsaussichten der vorgeburtlichen Operation lässt sich momentan nur wenig sagen, da bisher erst die Ergebnisse einer einzigen Studie veröffentlicht wurden: Im Rahmen der randomisierten und prospektiven MOMS-Studie erhielten 183 Kinder mit offenen Rücken entweder eine prä- oder postnatale Behandlung. 12 Monate nach der Geburt war bei 82 Prozent der postnatal operierten Kinder ein Shunt notwendig, aber nur bei 40 Prozent der pränatal operierten Kinder. „Der vorgeburtliche Eingriff scheint auf den ersten Blick vorteilhaft für die so behandelten Kinder zu sein, doch ob ihre Lebensqualität nach 10 Jahren tatsächlich besser ist als bei den anderen Kindern, das weiß im Moment noch niemand“, sagt Henrich. Auch Tutschek rät zur Vorsicht: „Wir wissen bislang mit Sicherheit nur, das sich die Prognose etwas verbessern lässt, wenn das Protokoll der MOMS-Studie befolgt wird. Für alle anderen Eingriffsmöglichkeiten steht dieser Beweis aber noch aus.“ Originalpublikationen: Detection of Spina Bifida by First Trimester Screening – Results of the Prospective Multicenter Berlin IT-Study [Paywall] F. C. Chen et al.; Ultraschall Med.; 2015 A randomized trial of prenatal versus postnatal repair of myelomeningocele N. S. Adzick et al.; N Engl J Med, doi: 10.1056/NEJMoa1014379; 2011