Langsam naht der Frühling und Zecken erwachen zu neuem Leben. Ihre Aktivität und die Verbreitung von Borrelien könnten sich durch den Klimawandel deutlich ausweiten, befürchten Forscher. Sie versuchen, Infektion und Immunabwehr auf molekularer Basis zu verstehen.
Schlechte Karten für Barack Obamas Klimaschutzziele: 27 Bundesstaaten klagen gegen seinen Plan, den CO2-Ausstoß von Kraftwerken zu verringern. Präsidentschaftskandidat Donald Trump verkündet lautstark, er glaube sowieso nicht an den Klimawandel. Angesichts derartiger Parolen sind Pädiater besorgt. Sie sehen Kinder in vielen Fällen als Leidtragende global ansteigender Temperaturen. Einem Positionspapier zufolge befürchten sie unter anderem mehr Fälle von Lyme-Borreliose. Das hat mehrere Gründe.
Beim letzten Zeckenkongress Mitte März stellte Prof. Dr. Ute Mackenstedt, Universität Hohenheim, neue Trends vor. „Der Klimawandel hat die Zecke in Deutschland zu einem quasi ganzjährig aktiven Tier gemacht", fand die Wissenschaftlerin heraus. Zecken seien bereits ab Februar und bis in den Dezember hinein aktiv. Mackenstedt weiter: „Wir sind es nicht gewohnt, in den ehemals kalten Monaten mit Zeckenstichen zu rechnen und schützen uns nicht entsprechend.“ Professor Dr. Sven Klimpel vom Senckenberg Biodiversität und Klima-Forschungszentrum hat sich auf die Suche nach weiteren Vektoren begeben. Er fand heraus, dass zehn verschiedene Stechmückenarten aus vier Gattungen an elf Standorten Borrelien in sich trugen. „Wir haben bestimmte Borrelien-spezifische Gene mit molekularbiologischen Methoden nachgewiesen und konnten so die Borrelien-Arten Borrelia afzelii, Borrelia bavariensis und Borrelia garinii identifizieren“, sagt der Forscher. Alle drei Borrelien-Arten sind humanpathogen und gelten in Deutschland als die bedeutendsten Erreger der Lyme-Borreliose. Klimpel zufolge spielen Mücken derzeit zwar noch "eine eher untergeordnete Rolle" bei der Übertragung. Allerdings könnte sich das ändern, denn die stechenden Plagegeister profitieren vom Klimawandel.
Auch das Bakterium Borrelia burgdorferi passt sich durch Mutationen neuen Gegebenheiten an, wobei der Klimawandel kaum als alleiniger Auslöser in Frage kommt. Bobbi S. Pritt, Forscher an der Mayo Clinic Rochester, beschreibt jetzt einen neuen, deutlich aggressiveren Erreger [Paywall]. Zusammen mit Kollegen hat er rund 9.000 Isolate physikalisch untersucht. Bei einer spezifischen Temperatur lösen sich DNA-Doppelstränge voneinander, was sich per UV-Spektroskopie verfolgen lässt. Diese „Schmelzkurve“ ist spezifisch für bestimmte Nukleinsäuren. Im Experiment zeigten sechs Proben stark abweichende Eigenschaften. Es handelte sich um Erreger aus Minnesota, North Dakota und Wisconsin. Nach genetischen Analysen zeigten sich starke Abweichungen zu Borrelia burgdorferi. Pritt nennt den Erreger deshalb nach der Klinik Borrelia mayonii. Er berichtet auch von klinischen Unterschieden. Das neue Bakterium führt zu stärkeren Bakteriämien mit teils unerwarteten Symptomen, etwa Übelkeit, Erbrechen, Schmerzen und Fieber. Statt der Wanderröte erwähnt Bobbi Pritt diffuse oder fokale Hautausschläge. Kommerzielle Antikörpertests funktionieren auch beim neuen Erreger, berichtet Ben Beard von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC).
Um zu verstehen, wie Borrelien auf den Menschen übertragen werden, begaben sich Forscher um Monika Gulia-Nuss, West Lafayette, auf Spurensuche. Zusammen mit Kollegen hat sie das Genom der Hirschzecke unter die Lupe genommen. Aufgrund der Komplexität zogen sich ihre Arbeiten zehn Jahre in die Länge. Jetzt liegen etliche Daten vor. Rund 20 Prozent aller Gene waren hoch spezifisch für Zecken. Beispielsweise identifizierte Gulia-Nuss mehrere Proteine im Speichel, die zusammen mit bakteriellen Enzymen Infektionen erleichtern. Sie vermutet Effekte auf den Transport im Blut und in der Lymphflüssigkeit. Andere Gene codierten für Eiweiße, mit denen die Plagegeister menschliches Blut verdauen und Eisen verarbeiten. Manche Proteine könnten neue Angriffspunkte zur Pharmakotherapie darstellen, heißt es im Artikel. Die Daten bieten anderen Arbeitsgruppen die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden.
Doch welche molekularen Mechanismen laufen im menschlichen Körper bei einer Borrelieninfektion ab? Forscher um Professor Dr. Stefan Linder, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, fanden wichtige Details heraus. Borrelien werden in ein Membran-umhülltes Kompartiment aufgenommen, das sich fortwährend verkleinert. Dies führt zur Kompaktierung der Bakterien. Durch die anschließende Ansäuerung des Kompartiments werden die so umhüllten Erreger abgebaut. Lindner fand heraus, dass die Makrophagen-Proteine Rab22a und Rab5a als molekulare Schalter eine zentrale Rolle spielen. Sie befinden sich an unterschiedlichen Orten in Makrophagen. Erst durch das endoplasmatische Retikulum (ER) gelangen beide Proteine an den Ort des Geschehens. Dieses ER-basierte Zusammenwirken ist Lindner zufolge der Startschuss zum Abbau. Fehlen Rab22a oder Rab5a, haben Borrelien deutliche Überlebensvorteile: eine Strategie, um Erregern zu entkommen. Mit Hintergrundwissen ist aber keinem Patienten geholfen.
Deshalb noch ein Blick auf praxisnahe Forschungsprojekte. Zurzeit arbeiten Health Professionals und Ingenieure gemeinsam an Lab-on-a-Chip-Tools, um die akute und chronische Lyme-Borreliose zu detektieren. Ihr Ziel ist nicht nur, die Sensitivität zu erhöhen. Gleichzeitig wollen sie in einem einzigen Durchlauf Borrelien, Anaplasmen, Rickettsien, Babesien, Bartonellen oder Ehrlichien detektieren. Nach guten Resultaten beim Vorläuferprojekt HILYSENS I ging es mit HILYSENS II in die nächste Phase, um ein robustes und erschwingliches Produkt zu entwickeln. Das Akronym steht für „Highly sensitive and specific low-cost lab-on-a-chip system for Lyme disease diagnosis“. Am Konsortium sind die BCA-clinic/BCA-lab, die Universität Göteburg und die Firmen STAB VIDA (Portugal), MicroLIQUID (Spanien) beziehungsweise Micro Bio Devices (Italien) beteiligt. Mitte 2015 lag die Produktionskapazität bei 100 bis 200 Chips pro Woche. Das neue System wäre nicht nur ein Beitrag, um Diagnosekosten zu minimieren und Folgekosten zu verringern. Vielmehr könnten Ärzte jenseits spezialisierter Testzentren schnell und sicher Untersuchungen durchführen. Gesundheitsökonomen rechnen mit großem Interesse bei Krankenkassen. Das Marktvolumen innovativer Biochips bewegt sich weltweit mindestens im hohen zweistelligen Millionen-US-Dollar-Bereich.