Jungen sind weniger motiviert, Lesen zu lernen, wenn sie von Erzieherinnen mit traditionellen Einstellungen gegenüber Geschlechterrollen betreut werden. Für Mädchen spielte es dabei keine Rolle, welche Einstellung die Erzieherin hat. Sie zeigten eine insgesamt höhere Lesemotivation.
Obwohl gute Lesefähigkeiten eine wichtige Grundlage für Bildung sind, zeigt sich immer wieder, dass Jungen weniger gut lesen können und insbesondere weniger Interesse am Lesen haben als Mädchen. „Die Ursachen dafür sind sehr vielseitig“, erklärt Ilka Wolter. „Wir haben untersucht, welche Rolle die Einstellungen von Erzieherinnen in der Vorschulzeit spielen.“ Die Forscherinnen befragten insgesamt 135 Erzieherin-Kind-Paare (davon 65 Erzieherin-Junge-Paare) im Verlauf eines Jahres. In der ersten Befragung zum Ende der Kindergartenzeit beantworteten die Erzieherinnen Fragen zu ihren Einstellungen gegenüber Geschlechterrollen (zum Beispiel: „Für den Ersteindruck ist ein gepflegtes Äußeres bei einer Frau wichtiger als bei einem Mann“ versus „Frauen eignen sich ebenso gut für die Leitung eines technischen Betriebes wie Männer“). Bei den Vorschulkindern wurde zum einen untersucht, wie motiviert sie waren, Lesen zu lernen. Dazu sollten sie mit Hilfe von drei Smileys angeben, wie gerne sie Aktivitäten nachgingen, die für das Lesenlernen förderlich sind (zum Beispiel neue Lieder oder Reime lernen). Außerdem wurden die Sprachkompetenzen im Vorschulalter erfasst, die für die späteren Fähigkeiten im Lesen und Schreiben wichtig sind. Ein Jahr später, gegen Ende der ersten Schulklasse, fand die zweite Befragung der Kinder statt. Mithilfe der „Würzburger Leise Leseprobe“ wurde getestet, wie gut die Kinder lesen konnten. Bei diesem Test lesen die Kinder leise Wörter und wählen aus Bildalternativen das jeweils passende Bild aus.
Es zeigte sich: Jungen, die eine Erzieherin mit traditionellen Geschlechterrollen hatten, waren weniger motiviert, lesen zu lernen. Dagegen waren die Jungen bei Erzieherinnen mit egalitären Geschlechtsrolleneinstellungen genauso motiviert, lesen zu lernen wie die Mädchen. Für die Mädchen spielte es keine Rolle, welche Einstellungen ihre Erzieherin hatte, und sie waren insgesamt motivierter zu lesen als Jungen. Was die Lesefähigkeiten anbelangt, schnitten die Jungen im Test zum Ende der ersten Klasse insgesamt schlechter ab als die Mädchen. Vor allem die Jungen, deren Erzieherinnen traditionelle Geschlechtsrolleneinstellungen hatten, konnten nicht so gut lesen. „Die Einstellungen der Erzieherinnen haben also auch noch ein Jahr später Wirkung auf die Lesefähigkeiten eines Schülers, und zwar dadurch, dass sie die Lesemotivation der Jungen zur Kindergartenzeit beeinflusst haben“, sagt Ilka Wolter.
Die Autorinnen analysierten auch, wie sich die Lesemotivation und die Sprachkompetenzen der Kinder im Vorschulalter auf ihre Lesekompetenzen ein Jahr später auswirkten. Dabei zeigte sich ein Zusammenhang zwischen der Lesemotivation im Kindergarten und der Lesefähigkeit ein Jahr später: Kinder, die im Kindergarten schon Lust auf Lesen hatten, konnten dies ein Jahr später auch besser als die weniger motivierten Gleichaltrigen. „Jungen können unterstützt werden, Lesen zu lernen“, sagt Ilka Wolter. „Erzieherinnen sollten in ihrer Ausbildung unbedingt dafür sensibilisiert werden, dass sie zu einer geschlechtergerechten Lernumgebung beitragen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass sie – insbesondere für die Jungen in ihren Gruppen – einen motivationalen Grundstein für das Lesen legen können.“ Originalpublikation: Reading is for girls!? The negative impact of preschool teachers' traditional gender role attitudes on boys' reading related motivation and skills Ilka Wolter et al.; Frontiers in Psychology, doi: 10.3389/fpsyg.2015.01267; 2016