Es ist jetzt einige Monate her, dass ich meinen Arbeitsplatz gewechselt und die Notaufnahme verlassen habe. Zeit, mal innezuhalten und darüber nachzudenken, was mich die Zeit in der Notaufnahme gelehrt hat. Es folgen acht Punkte, die ich besonders wichtig finde.
1. Gelassenheit
Was man definitiv lernt und auch lernen muss, ist Gelassenheit. Gelassenheit im Umgang mit merkwürdigen Patienten, besorgten Angehörigen, erschreckenden Krankheitsbildern, mit Kollegen, mit denen man im besten Fall klarkommt, im schlechtesten Fall ihnen zumindest nicht an die Gurgel geht.
In der Klinik gibt so vieles, das mit Gelassenheit besser klappt. Oftmals hat man auch keine Wahl: Es nützt nichts, wenn man sich voller Emotionen in etwas reinsteigert. Dafür gibt‘s keine Sonderpunkte in Authentizität, sondern höchstens noch mehr Verdruss. Es ist ein bisschen wie bei der Goldmarie in Frau Holle: Dinge, die anstehen, machen. Es kostet viel weniger Energie und Nerven, als wenn ich weiterhetze. Im besten Falle wartet am Ende der Schicht ein Topf voller Gold. In der Pflege bedeutet das: Ich habe heute so pflegen können, wie ich es wollte und konnte und am besten war. Gelassenheit ist ein unbedingt erstrebenswerter Zustand.
Und tatsächlich hilft mir diese Gelassenheit heute im Alltag, mit diesem oder jenem besser klar zukommen. Ich weiß zumindest, dass das Gras nicht schneller wächst, wenn man versucht, daran zu ziehen. Dass Dinge einfach Zeit brauchen, manchmal viel Zeit. Und das bringt mich direkt zum nächsten Punkt, zum Gegenteil von Gelassenheit.
2. Ungeduld
Ich war und bin es gewohnt, schnell zu arbeiten. Da ist es umso ätzender, wenn man auf Mitmenschen trifft, die schneckengleich durch den Tag schleichen. Die mit aller Gemütsruhe ihrem Tagesgeschäft nachgehen, während man von einem Fuß auf den anderen trippelt. Die unendlich lange brauchen, um fünf Zahlen zusammenzurechnen oder die Pommes nach Schönheit zu sortieren. Ungeschickte Bewegungen, die einen beim Zusehen in den Wahnsinn treiben. Man möchte sie schütteln und ihnen gerne alles sofort aus der Hand nehmen.
Ich bin auch ungeduldig mit Worthülsen geworden. Politiker, die sich vermeintlich schöne Sachen ausdenken und sofortige Hilfe versprechen. Geht mir weg. Taten statt Worte, du Lauch. Vorher glaube ich keinem mehr ein Wort. Ich bin sogar zu müde, die Augen bei unsinnigen Ideen zu rollen. So vieles – gerade in der Pflege – höre ich seit Jahren. Nichts hat sich geändert bisher. Gut, der Neue hebt sich dadurch hervor, dass keine Woche vergeht, in dem er nicht die ein oder andere lustige Idee vorstellt. Ich schaue zu und warte ab.
Der Vorteil ist, dass ich innerhalb kürzester Zeit sofort merke, ob jemand rumlabert oder ob ein echtes Interesse an der Lösung möglicher Probleme besteht. Das betrifft nicht nur die Vorschläge von Herrn Spahn, auch in der Notaufnahme gilt: Laberrababa ist meist wenig zielführend. Es ist größtenteils Zeitverschwendung. Ich vermeide es, so gut es geht.
3. Solidarität
Ich habe sie oft erlebt unter Kollegen, die Solidarität. Dann hüllt sie dich ein wie ein warmer Mantel. Sie verschafft mehr Sicherheit, Selbstvertrauen. Zueinanderstehen ist großartig.
So schön sich Solidarität anfühlt, so sehr ist ihre Abwesenheit ein Schlag ins Gesicht. Diese Schläge treffen einen besonders hart, wenn sie überraschend kommen und aus einer Ecke, die man für sicher gehalten hat. Bestärkt euch daher zunächst, wenn möglich, selbst. Im Zweifel, auch das hat meine Erfahrung gezeigt, wird keiner für dich Stärke zeigen.
Für mich ist Solidarität trotzdem wichtig geworden. Haltung zeigen und verteidigen. Den andern stärken und auch schützen. Und nicht vergessen: Einen weiten Bogen um Idioten machen.
4. Keine Entschuldigungen und Erklärungen
Viele Leute meinen, das Konzept der Pflege erklären zu können: Ein bisschen Liebe, Berufung und Empathie und fertig ist die Nächstenliebesuppe. Jeder ist Experte, der schon mal einen Wellensittich gefüttert hat. Alle kennen sich aus. Ganz schön viel Meinung bei gleichzeitiger Ahnungslosigkeit.
„Pflegen kann jeder, der über die Fähigkeiten Liebe und Empathie verfügt und bei ein wenig Erbrochen nicht sofort mitwürgt.“ Da kann ich nur leise gähnen.
Der Pflege, in der ich gearbeitet habe und die ich einst lernte, lag ein komplexes Wissen zugrunde, eine enorme Professionalität und ein gewissen Maß an Selbstreflexion. Nicht jeder kann das leisten. Auch das muss mal gesagt sein.
Wenn Pflege gut sein soll, muss sie vor allem professionell sein und nicht ausschließlich von Berufung und Liebe getragen werden. Ich verstehe, dass vielen Kollegen die Haare vom Kopf abstehen, sobald das B-Wort fällt. Denn es impliziert auch immer einen Hang zur endlosen Güte, Selbstaufopferung und Verzicht. Und natürlich braucht man dann auch keinen anständigen, angemessenen Lohn. Liebe bezahlt man nicht. Liebe schenkt man. Ach, hört mir doch auf.
5. Den Wandel begrüßen.
Jeden Tag in der Notaufnahme sah ich, wie schnell sich die Welt aufhören kann zu drehen. Es ist also ein guter Ort, um zu kapieren, dass alles immer und ständig im Wandel ist. Und man erkennt: Es betrifft nicht nur die anderen, sondern auch mich.
Dieser eigene Wandel geht immer einher mit zweierlei: Dem sofortigen Wunsch, dass alles bitteschön bleibt, wie es ist und einer Euphorie allem Neuen gegenüber. Es ist oft die Angst, die uns hindert, neue Wege zu beschreiten. Schaff ich das? Bin ich bereit dazu? Kann ich mich nach vielen Jahren noch auf Neues einlassen? Werde ich je wieder so nette Kollegen haben?
Im Sommer traf ich eine ehemalige Kollegin. Sie war damals Ärztin, ein echtes Hasenkind. Unsicher, ängstlich, oft überfordert, eine, die man nicht wachsen ließ. „Jetzt ist Dienst und du hast zu funktionieren. Komm klar!“
Wir stellten fest, dass wir beide nun nicht mehr in der Klinik arbeiteten. Sie sagte, sie hätte sich ein Leben jenseits der Klinik nie vorstellen können. Und als sie dann doch ging, merkte sie, dass sich die Welt weiterdrehte und ohne die Belastung sogar schöner wurde. Sie bekam Lust, etwas Neues auszuprobieren und reiste ein halbes Jahr durch Südostasien.
Ich staunte nicht schlecht. Ich hätte sie anders eingeschätzt. Ihre ganze Körperhaltung war anders. Wir stellten fest, dass es eine gehörige Portion Mut und Überwindung kostet, aus dem Gewohnten auszubrechen. Dann folgt ein Gefühl von Freiheit, das man am ganzen Leib spürt. Man merkt, dass das Leben einen trägt. Das man nicht zugrunde geht.
Alles ist im Wandel. Diese Tatsache sollten wir auch für uns selbst in Anspruch nehmen. Macht euch los von Strukturen, die euch krank machen oder euch langweilen. Es gibt ein Leben jenseits.
6. Lust auf Leben
Wenn man mit viel Krankheit und Leid zu tun hat, braucht es immer einen Ausgleich. Meine Lust auf Leben und Neues ist definitiv über die Jahre gewachsen. Weil ich mir klarmache, dass eine kleine Unachtsamkeit, ein Blutgerinnsel oder was auch immer einem das Leben in seiner Schönheit vermasseln kann, werde ich immer mutiger. Der Blog war ein Anfang. Der Berufswechsel ein weiterer Schritt. Sie reihen sich langsam aneinander. Das, was mir das Leben bieten kann, will ich mit offenen Armen empfangen. Möglich, dass es dann auch Dinge geben wird, die mich überfordern oder an meine Grenzen bringen. Aber: Das Bedauern wiegt auf der Wage des Lebens schwerer als das Ausprobieren. Also, auf! Leben, zeig mir was Schönes! Ich bin da.
7. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten
Jahrelang verunsicherte mich eine Kollegin: Sie erzählte beständig von ihrer enormen Erfahrung, die sie auch wirklich hatte. „Ich hab schon so viel gesehen!“ war einer ihrer häufigsten Sprüche. Als Frischling in der Notaufnahme ist man erst einmal beeindruckt. Bis ich nach Jahren feststellte: Sie kocht auch nur mit Wasser. Ihre Erfahrungen habe ich nicht, aber meine eigenen. Und die sind mittlerweile solide gewachsen, ich muss mich nicht von ihr verunsichern lassen.
So fing ich endlich an meinen eigenen Fähigkeiten zu trauen. Vertraut euch. Seid dabei nicht großkotzig und bleibt reflektiert, aber lasst euch nicht klein machen von Leuten, die es auch nicht mehr drauf haben als ihr. Lernt euren Wert kennen und macht ihn euch bewusst, wenn der nächste Verunsicherer um die Ecke biegt.
8. Ideen schmieden
Wir sind insgesamt sehr eingeschränkt in unserem Denken. Ich merkte das letztens, als ich ein Video sah von einem Mann, der im im Stil von Keith Haring malte. Er malte und malte eine ganze Seite voll. Und immer, wenn ich dachte: „Och, das ist hübsch so, hör auf“, malte er hier noch einen Kringel hin und dort eine Blume und das Blatt wurde voller und voller. Es war für mich so eine Art Augenöffner. Weiter zu malen. Mehr zu machen. Das Ganze voll zu kritzeln und sich nicht einzuschränken.
Es wird Zeit, in anderen Bahnen zu denken, wenn wir uns selbst und andere retten wollen. Vieles – nicht nur im Gesundheitswesen – wird auseinanderbrechen, anderes wird sich verändern und neu finden. Neue Fragen müssen gestellt werden. Wir brauchen mehr Idee, die diskutiert werden wollen. Das, was viele Jahre funktioniert hat, hält in vielen Bereichen nicht mehr stand.