Ein Klischee besagt, dass Chirurgen immer nur den Körperteil eines Patienten sehen, den sie behandeln müssen. Ganz grundsätzlich gilt das wohl für alle Ärzte: Je mehr man sich in ein Fach vertieft, desto mehr verlernt man alles andere und desto weniger ist der Blick für das Gesamtbild vorhanden.
Eines dienstags gehe ich OP-Plan für die Woche durch, als mir ein Name ins Auge springt: Herr Gerhard ist für die Entfernung eines kleinen Metallplättchens am Fuß eingeplant, das er zuvor zur Korrektur eines Knochenbruchs erhalten hatte. Den Namen habe ich doch schon mal gelesen, oder?
Tatsächlich, ein Herr Gerhard liegt auch bei uns auf der Intensivstation. Gleicher Vorname, gleiches Geburtsdatum, gleiche Akte. Ganz klar der gleiche Patient. Auf der Intensivstation ist er wegen Leberversagen. Der wird wohl bis übermorgen kaum fit genug sein für eine Metallentfernung, die man gut auch um ein paar Tage oder Wochen verschieben kann. Ich beschließe, die Sache in die Hand zu nehmen und rufe die Ärztin auf der Intensiv an.
Es steht schlecht um den Patienten
„Ach ja, deswegen wollte ich dich noch anrufen! Den könnt ihr gleich ganz vom OP-Programm nehmen. Sieht schlecht aus im Moment und falls er überlebt, ist er noch eine Weile nicht fit genug für einen Eingriff“, teilt sie mir mit.
Ich leite diese Information an die OP-Planer weiter und die Operation wird abgesagt. Damit sich nun niemand wundert, dass ich, eine kleine Assistenzärztin, es gewagt habe, in die göttliche Planung der Chirurgie einzugreifen (insbesondere, da die Planer einen Vermerk in die Akte setzten mit „OP abgesagt, weil Frau Gramsel es gesagt hat“ – herzlichen Dank übrigens, als ob ich das entscheiden würde), habe ich bei unserem Nachmittagsrapport die Situation geschildert.
Herr Gerhard ist ein bisschen gelb
„Herr Gerhard, sagst du?“, ruft mein Kollege ungläubig aus. „Den kenne ich!“
Herr Gerhard war nämlich am letzten Freitag – also vor vier Tagen – in der chirurgischen Sprechstunde. Dort wurde die Metallentfernung besprochen und der Patient direkt in unsere Sprechstunde geschickt, um ihn direkt für die Narkose aufzuklären.
Der Chirurg hatte Herrn Gerhard bei uns folgendermaßen angemeldet: „Da kommt noch einer für eine Metallentfernung. Ist was ganz Kurzes. Geht in Teilnarkose. Ach ja, und er ist ein bisschen gelb. Danke!“
Mein Kollege fragte nicht nach. Er kannte den Patienten noch vom letzten Mal und wusste, was ihn erwartete – dachte er zumindest.
Ganz in Ruhe zum Hausarzt
Als der Patient dann in die Sprechstunde kam, bekam dieser erst mal einen Schreck. Der Patient rollte im Rollstuhl ins Sprechzimmer mit knallgelben Augen und gelblich-bräunlicher Haut.
„Herr Gerhard, letztes Mal saßen Sie doch noch nicht im Rollstuhl oder irre ich mich?“
„Nein, nein … Aber wissen Sie, ich bin so erschöpft seit ein paar Tagen, ich mag kaum noch gehen.“
„Und seit wann sind Sie so gelb?“
„Seit zwei Wochen, hat plötzlich angefangen.“
„Waren Sie deswegen beim Arzt?“
„Nein, so schlimm ist das ja jetzt auch nicht, bisschen gelb …“
Mein Kollege hat dann trotzdem die Aufklärung für die Teilnarkose gemacht und den Patienten anschließend direkt in die Notaufnahme geschickt – er ging allerdings erst am Montag zum Hausarzt. Ist ja nun wirklich nicht so schlimm, ein bisschen gelb seit zwei Wochen. Aufgrund der hohen Leberwerte schickte der Hausarzt den Patienten direkt mit Krankenwagen ins Spital. Er kam auf die medizinische Station, sein Zustand verschlechterte sich dann allerdings über Nacht und er musste auf die Intensivstation.
Gelbsucht: Für die Chirurgen unerheblich
Die Geschichte löste bei uns Entsetzen aus. Im Sprechstundenbericht des chirurgischen Kollegen wurde die Gelbsucht mit keinem Wort erwähnt. Es wurde nur der Fuß beschrieben, mehr nicht. Es kam ihm auch nicht in den Sinn, diesbezüglich nachzufragen, obwohl es ihm aufgefallen war, schließlich hat er es ja meinem Kollegen gegenüber extra noch erwähnt.
Es ist, gelinde gesagt, schade, wenn man vor lauter kaputten Ästen den Waldbrand nicht sieht.
Dazu passend gibt es einen in Medizinerkreisen bekannten kurzen englischen Youtube-Film, der dieses Klischee auf die Spitze treibt. In dem Film kommt ein Traumatologe (Unfallchirurg) zur Anästhesistin und sagt: „There is a fracture. I need to fix it.“ Nach einigen Nachfragen kommt heraus, dass der Patient tot ist.