In der Anästhesie legen wir die Infusion generell am Handrücken. Wenn es dort nicht klappt, gehen wir weiter den Arm hinauf. Wir machen dies aus gutem Grund: Man stelle sich vor, wir würden zuerst am Oberarm stechen. Dort klappt es nicht. Am Unterarm klappt es dann gut, also laufen die ganzen Medikamente in die Vene im Unterarm. Die Vene am Oberarm hat aber ein Loch von unserem Fehlversuch drin. Im dümmsten Fall könnten da Medikamente aus der Vene ins umliegende Gewebe austreten und Schäden verursachen.
Die Patientin heute kommt bereits mit einem Zugang, den die Pflege auf der Station gelegt hat – in der Ellenbeuge. Den Ort mögen wir überhaupt nicht und ich sollte bald daran erinnert werden, warum nicht.
Als es Zeit war, in den Operationssaal zu fahren, löse ich alle Schläuche der Beatmungsmaschine. Ein Lagerungspfleger trifft die letzten Vorbereitungen, damit die Patientin auch in der richtigen Position für die Operation liegt und zieht dann den Operationstisch mit der schlafenden Patientin durch die Verbindungstür von der Vorbereitung in den Operationssaal. Ich schiebe Beatmungsmaschine und Infusionsständer hinterher. Vorsichtig, koordiniert, wie immer.
Auf einmal piepst der Perfusor
Im Saal muss ich die Maschine wieder anschließen. Die Kabel für Strom, Sauerstoff, Luft und Vakuum müssen in die jeweiligen Stecker, alle Geräte müssen am richtigen Ort stehen, den Wagen mit den Medikamenten musste ich außerdem noch aus dem Vorbereitungsraum holen. Das ist immer viel zu tun für einen alleine.
Mittendrin unterbricht mich der Perfusor, die kleine Maschine, die die Schlafmittelspritzen automatisch bedient. Er piepst. Ein Blick darauf verrät „Okklusion“, also irgend ein Verschluss im System. Gleichzeitig piepst die Beatmungsmaschine und meldet mir, dass etwas mit der Beatmung nicht stimmt. Weil die Atemfrequenz unter den von mir bestimmten Minimalwert fällt, piepst auch noch der Überwachungsmonitor. Eine Menge Piepserei gleichzeitig.
Die Patientin schläft nicht tief genug – aber wieso?
Oh Shit. Was ist das Problem? Systematisch analysiere ich im Kopf die Situation. Die Patientin hustet und lässt sich nicht mehr so gut beatmen. Das bedeutet in aller Regel, dass die Narkose nicht tief genug ist. Die Patientin schläft zwar, ihr Bewusstsein ist ausgeschaltet, aber ihr Körper stört sich an den Reizen: dem Schlauch im Mund, der Beatmung, dem kalten Desinfektionsmittel, das die Chirurgin gerade aufträgt.
Ich vertiefe also die Narkose, stelle die Medikamente etwas höher. Der Perfusor piepst wieder und bemängelt nach wie vor eine Okklusion. Aber warum? Die Hähne sind offen. Die Schläuche sind dran. Der Zugang … der Zugang!
Der Lagerungspfleger hat für die Saaleinfahrt den Arm der Patientin angewinkelt. Normalerweise kein Problem, aber hier liegt der Zugang in der Ellenbeuge und wird wohl deshalb abgedrückt. Das ist mir nicht aufgefallen, weil der Arm unter den warmen grünen Tüchern versteckt ist, damit die Patientin nicht auskühlt und ich habe nicht auf den Pfleger geachtet und nicht kontrolliert, ob alles in Ordnung ist.
Die Medikamente fließen wieder
Ich strecke den Arm und sehe, wie die Medikamente wieder laufen. Doch es ist zu spät: Die Patientin hatte zu lange keine Schmerzmittel und wacht langsam auf. Sie hebt vorsichtig den Kopf und versucht, umherzuschauen, aber ihre Augen sind mit Schutzklebern zugeklebt.
Ich weiß zwar, dass sie bald wieder einschlafen wird, denn die Medikamente fließen wieder in ihren Arm. Ich nehme die Kleber über den Augen weg und sage: „Wir sind im Operationssaal, die Operation hat noch nicht begonnen. Es ist alles gut, Sie dürfen noch ein wenig weiterschlafen“.
Sie ist noch im Halbschlaf, hört mich, kann mich aber nicht direkt anschauen oder mir antworten. Meine Stimme beruhigt sie, sie legt sich wieder hin und schließt die Augen. Sekunden später ist sie wieder im Tiefschlaf.
Ich komme mit dem Schrecken davon
Ich habe einen gehörigen Schrecken bekommen. Passiert ist prinzipiell nichts Schlimmes. Die Patientin hatte keine Schmerzen, denn wir haben noch nichts gemacht. Eigentlich ist das passiert, was auch passiert, wenn die Patientin gewollt aus der Narkose aufwacht: Wir stellen die Medikamente ab und warten, bis die Patientin wach ist und selber atmet, dann nehmen wir den Schlauch aus dem Mund und bringen sie auf die Überwachungsstation.
Die Patientin wird keinen Schaden davontragen. Es war keine von diesen gefürchtete Situationen, in denen man während der Operation wach wird, aber sich nicht bewegen kann. Dieses sanfte Aufwachen wird ihr keinen Schrecken eingejagt haben. Höchstens die zugeklebten Augen könnten sie irritiert haben. Wahrscheinlich ist aber, dass sie sich an nichts erinnern wird.
Immer auch die Ellenbeuge kontrollieren
Der Rest der Operation verläuft komplett unauffällig, die Patientin wacht nach der Operation sanft wieder auf. Auf meine Frage, ob sie gut geschlafen habe, grinst sie und antwortet mit einem langgezogenen und zufriedenen „Jaa“.
Ich besuche sie später auf Abteilung nochmal. Tatsächlich kann sie sich an nichts erinnern. Die Medikamente, die sie vor und während der Operation erhalten hat, löschen auch Erinnerungen (Achtung: Sie löschen aber keine negativen Gefühle oder Träume).
Beim Abendrapport lege ich vor versammelter Mannschaft die Ereignisse dar und wir diskutieren gemeinsam, wie man eine solche Situation in Zukunft verhindern könnte. Ich werde die Patientin auch morgen noch einmal besuchen, um zu sehen, ob es ihr gut geht. Und bei Venenzugängen in der Ellenbeuge werde ich ab sofort immer ganz genau aufpassen – oder einen neuen Zugang an strategisch besserer Stelle legen, sobald die Patientin schläft, damit mir so etwas nicht noch einmal passiert.