BEST OF BLOGS | Eine beachtlich große Patientengruppe wird im Gesundheitssystem vernachlässigt. Sie leidet häufig unter Beschwerden ohne deren Auslöser zu kennen, mit einem Arzt spricht sie nur selten und äußerst ungern.
Eines meiner persönlichen Herzensthemen ist der Zugang zu Gesundheitsleistungen. Krankheit kostet Geld und kranke Menschen können oftmals nur eingeschränkt einer Tätigkeit nachgehen. Schaut man sich die bisher am stärksten ausgeschlossenen Gruppen an, landet man nach kurzer Zeit bei den üblichen Verdächtigen:
Hier müssen wir also noch einiges tun, um unserem moralischen Selbstbild gerecht zu werden. Allerdings gibt es, wenn man einmal in eine Übersichtsvergrößerung zoomt, eine Gruppe von Menschen, die beim Zugang zum Gesundheitssystem benachteiligt sind. Es sind Männer.
Männliche Patienten somatisieren oft mehr als weibliche
Als ich mit dem Rettungsdienst angefangen habe, habe ich den inzwischen immer seltener anzutreffenden „Schleswig-Holsteinischen Bauerntypus“ kennenlernen dürfen. Eine unheimlich resiliente Patientengruppe, die nur dann zum Telefonhörer greift, wenn der eigene Kopf unterm Arm klemmt (was ja hinderlich beim Autofahren wäre). Sowohl Männer als auch Frauen dieses Typus sind ungemein hartgesotten. Allerdings waren es zumeist die Frauen, die für ihre Männer anriefen. Inzwischen ist das anders. Der Rettungsdienst wird häufiger auch für Bagatellen gerufen, auch von Männern.
Allerdings somatisieren männliche Patienten oftmals mehr als weibliche Patienten. Eigentlich haben sie eine Depression, eine Alkoholsucht oder sind arbeitsbedingt am Rande der Erschöpfung, uneigentlich rufen sie an, weil sie Brustschmerzen, Gelenkbeschwerden oder scheinbar neurologische Probleme, etwa ein Kribbeln in den Armen, haben. Nur selten dringt man zu ihnen emotional so weit vor, dass man zum Kern des Problems kommt. Natürlich ist das im Rettungsdienst auch nicht mein Job.
Allerdings scheint dieser Effekt, glaubt man einer Studie der Work Foundation aus diesem Jahr, generalisierbar zu sein. Männer sind offenbar eine recht spezielle Patientengruppe, die sich mit denen an sie gestellten Rollenerwartungen und dem Thema Krankheit, recht schwer tut. Dabei sind es doch sie, die öfter vollendete Selbstmorde begehen, deren psychische Probleme sich häufiger in Gewalt äußern und die mehr mit Süchten zu kämpfen haben.
Wie sehr Arbeit die Männergesundheit beeinflusst
Ein weiterer krankmachender Faktor für sie ist ihre Arbeit. Noch vor einhundert Jahren starben Minenarbeiter an Silikosen und bei Grubenunglücken. Heute sterben Arbeitnehmer, männliche wie weibliche, zwar weniger, sie leiden aber dennoch häufiger unter arbeitsplatz-assoziierten psychischen Problemen. Männer sind hiervon, trotz der sich stetig weiter vollziehenden Emanzipation der Frauen, immer noch häufiger betroffen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass immer noch zumeist Frauen Karrierepausen für Kindererziehung oder die Pflege von Angehörigen hinnehmen. Woran das genau liegt, ist nicht so ganz klar, Soziologen vermuten aber, dass wir anhaltend von klassischen Rollenbildern geprägt werden. So wie der Mann „die Brötchen verdienen“ muss, gehört „eine Mutter einfach zu ihrem Kind“.
Helfen wird auf lange Sicht nur, psychische Probleme von Männern zu enttabuisieren und die klassischen Familienrollen, auch zu Gunsten der Karrieren von Frauen, weiter in Frage zu stellen. Auch die Arbeitswelt muss von ihrem Effizienzgedanken Abstand nehmen, denn bei diesem Punkt geht es natürlich nicht um „den Mann an sich“, sondern um krankmachende Arbeit. Dabei koppeln insbesondere Männer ihren Wert oftmals an ihre beruflichen Leistungen. Kaum verwunderlich ist also, dass auch Arbeitslosigkeit krank macht. Seit der Agenda 2010 schaut die Gesellschaft immer missfallender auf Bezieher von Sozialhilfe, die durch das Gefühl der Minderwertigkeit schlimmstenfalls krank werden, was ihre Arbeitsfähigkeit senkt. Ein sozialer Drift entsteht.
Dinge, die sich ändern müssen
Allerdings können auch Heilberufler und Organisationen einen Beitrag zu mehr Männergesundheit leisten:
Im Grunde aber wissen wir über dieses Phänomen noch viel zu wenig, sodass mehr Forschung in dem Bereich für alle Seiten nur gewinnbringend sein kann. Dies dürfte mit einer sinkenden Kriminalitätsrate, einer Verbesserung der Wirtschaftsleistung und einem größeren Wohlergehen der Gesamtbevölkerung einhergehen.