Nephrologen und Intensivmediziner streiten: Wer darf Patienten mit Nierenversagen auf der Intensivstation behandeln? Fachgesellschaften geht es dabei anscheinend mehr um eigene Interessen als um das Patientenwohl.
Fast jeder zweite Patient, der auf der Intensivstation behandelt wird, leidet neben der aktuellen Erkrankung zusätzlich an einem akuten Nierenversagen. Und bis zu 25 Prozent dieser Patienten müssen mit einer extrakorporalen Nierenersatztherapie häufig im Rahmen eines Multiorganversagens behandelt werden. Doch wer behandelt diese Patienten am besten – Nephrologen oder Intensivmediziner? Über diese Frage streitet sich die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) mit der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie (DGfN) sowie dem Verband leitender Klinikärztinnen und -ärzte in der Nephrologie (VLKN). Worum geht es bei dem Streit im Detail?
Nephrologen der DGfN und vom VLKN erklären ihre Sicht folgendermaßen: „Durch zahlreiche Studien in den letzten Jahren konnte belegt werden, dass die Prognose von Patienten mit und nach akutem Nierenversagen durch nephrologische Mitbetreuung erheblich verbessert wird. Das frühzeitige Einbeziehen von Fachärzten für Innere Medizin und Nephrologie hat nicht nur kurzfristig, sondern auch im Langzeitverlauf positive Auswirkungen auf Mortalität und Morbidität dieser Patienten.“ Und deshalb fordern sie: „Die Behandlung eines akuten Nierenversagens auf einer Intensivstation muss immer in Kooperation mit Fachärzten für Innere Medizin und Nephrologie erfolgen.“ Inhaltlich meinen sie sowohl Indikationsstellung als auch Verfahrensauswahl und Verfahrensdurchführung bei der Therapie. Als Beispiel nennen sie Diagnostik und Therapie des akuten Nierenversagens. Nur mit den richtigen Fachärzten gelinge es, die Prognose von Patienten mit und nach akutem Nierenversagen erheblich zu verbessern. Kollegen der Intensiv- und Notfallmedizin halten solche Forderungen für übertrieben und haben mit einer Stellungnahme reagiert: Derartige Ansprüche gingen „an der Realität des klinischen Alltags vorbei“, seien „weder sachgerecht noch evidenzbasiert“ und wären „flächendeckend so auch nicht umzusetzen“. Aus diesen Gründen lehne die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) diese Maximalforderung einer organbezogenen Fachgesellschaft ab. Die Intensivmediziner bewerten die Behandlung von Patienten mit Nierenversagen und speziell den Einsatz extrakorporaler Nierenersatzverfahren als „Kernkompetenzen der Intensivmedizin“. Dies seien schließlich feste Inhalte der Weiterbildung. Aber eben auch bei den Nephrologen, möchte man ergänzen. Um sich anzunähern, schlagen die Nephrologen von DGfN und die VLKN folgenden Konsens vor:
Tatsächlich streiten sich zwei kompetente Berufsgruppen um Patienten, was an leidige Diskussionen um den Facharzt für Notfallmedizin erinnert. Fachgesellschaften wahren primär die Interessen von Mitgliedern, aber nicht unbedingt von Patienten. Die DGfN und die VLKN übersehen eine Sache: In Deutschland arbeiten momentan rund 2.000 Nephrologen, aber insgesamt 50.000 Intensiv- und Notfallmediziner. Ob die Zahl an Nephrologen ausreichen würde, um alle Forderungen in der Praxis auch umzusetzen, ist fraglich.
Ronit Calderon-Margalit © Hadassah-Hebrew University Braun School of Public Health Mit ihrer Kontroverse setzen diese Fachgesellschaften am Ende der Behandlungsskala an. Wichtiger wäre, Risikofaktoren zu identifizieren, bevor es zum Schlimmsten kommt. Hinweise auf Nierenversagen gibt es laut Ronit Calderon-Margalit schon Jahre bis Jahrzehnte vor Ausbruch der Krankheit. Sie arbeitet an der Hadassah-Hebrew University Braun School of Public Health in Israel. Calderon-Margalit empfiehlt allen Ärzten deshalb, nach Nierenerkrankungen während der Kindheit zu fragen. Zum Hintergrund: Entzündungen sind in jungen Jahren nicht selten, heilen jedoch meist ohne weitere Beschwerden ab. Auch bei angeborenen Anomalien der Niere haben Patienten gute Prognosen. Doch der Schein trügt: Auf Basis einer Kohorte mit 1,5 Millionen Wehrpflichtigen aus Israel zeigt Calderon-Margalit, dass Vorerkrankungen trotzdem ihre Spuren hinterlassen. Sie identifizierte 18.592 gesunde Rekruten mit normaler Nierenfunktion, aber mit Nierenleiden in ihrer Vorgeschichte. Das entnahm die Forscherin medizinischen Aufzeichnungen. Sie unterscheidet drei Gruppen:
Weitere Informationen kamen vom National Registry of Renal Replacement Therapy. Die Datenbank erfasst alle Patienten mit Dialyse oder Nierentransplantation in Israel. Während der 30-jährigen Nachbeobachtungszeit entwickelten 2.490 Personen in der gesamten Kohorte eine terminale Niereninsuffizienz mit Dialysepflicht. Bei Personen mit Fehlbildungen war das Risiko fünffach höher. Dazu gehören u.a. Hufeisen- oder Beckennieren. In dieser Gruppe wurden Personen im Schnitt sieben Jahre früher dialyspflichtig als Teilnehmer der Kontrollgruppe ohne Vorerkrankungen oder strukturelle Anomalien. Eine Pyelonephritis oder eine glomeruläre Erkrankung vervierfachten das Risiko. In absoluten Zahlen gemessen bleibt die Sache aber deutlich überschaubarer. In der Risikogruppe wurden von 18.592 Personen nur 140 (0,75 Prozent) dialysepflichtig. Die retrospektive Analyse hat die bekannten Schwächen. Es gelingt ihr lediglich, Assoziationen aufzuzeigen, aber keine Kausalitäten. Neben Krankheiten in jungen Jahren bekamen Forscher als relevante Parameter nur das Alter, das Geschlecht, den systolischen Blutdruck sowie den Body Mass Index. Andere Leiden oder Pharmakotherapien standen nicht zur Verfügung. Bekanntlich kann der Missbrauch von Analgetika unsere Nieren schädigen. Mit diesm Aspekt konnte sich Calderon-Margalit aufgrund fehlender Daten aber nicht befassen. In einem Editorial hält die Nephrologin Julie R. Ingelfinger vom Massachusetts General Hospital, Boston, entsprechende Zusammenhänge jedoch für recht plausibel. „Zu Beginn unseres Lebens haben wir 200.000 bis zwei Millionen Nephrone“, schreibt die Expertin. Dies reiche als renal-funktionelle Reserve normalerweise aus. Aufgrund angeborener Anomalien oder Erkrankungen sinke die Zahl funktionsfähiger Nierenkörperchen kontinuierlich. „Spätestens im Alter reicht dies nicht mehr aus, um unseren Körper zu entgiften“, schlussfolgert Ingelfinger.
Momentan bleibt Ärzten also nur, bei Nierenerkrankungen auf Prävention zu setzen: Ein Großteil aller Patienten mit Niereninsuffizienz leidet jahrelang an Typ 2-Diabetes oder an arterieller Hypertonie. Beide Erkrankungen werden in hohem Maße durch unseren Lebensstil ausgelöst. Diabetes und Bluthochdruck stehen einerseits mit dem Lebensstil in Verbindung, was einen Ansatzpunkt bietet. Selbst bei Patienten mit den Krankheitsbildern gelingt es, über Pharmakotherapien das nephrologische Risko zu minimieren. Das setzt Therapietreue bei den Betroffenen voraus. Sollten Patienten wie in Calderon-Margalits Kohorte Vorerkrankungen haben, ist gegebenenfalls schon in jüngeren Jahren die Dosis von Arzneistoffen den nephrologischen Risiken anzupassen. Exorbitante Mengen an OTC-Analgetika schaden dieser Gruppe besonders stark.