Ich mag Leitlinien. Aber sie verleiten auch dazu, sie nur abzuarbeiten und nicht mehr selbst nachzudenken. Wir achten zu viel auf die Leitlinien anstatt auf den Patienten. Wollen wir Ärzte oder Mediziner sein?
„Gute Krankenversorgung ist angewandte Wissenschaft im Einzelfall.“ Jürgen Schölmerich, Internist und Hochschullehrer
Ich mag Algorithmen und Leitlinien. Also Algorithmen im eigentlichen Sinn des Wortes als „eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems“. Ich finde sie unheimlich praktisch, wenn man bei einem alltäglichen Thema immer wieder den aktuellen Stand bekommt, wie z.B. die aktuelle Hochdruckleitlinie.
Ich finde sie auch deshalb unheimlich praktisch, weil man hier auf dem Land nicht für alles sofort einen Facharzt zur Hand hat, sondern jeder Facharztbesuch für den Patienten mindestens 30 bis 40 Kilometer Anfahrt bedeutet. Da kann man dann in den Leitlinien vorher nachlesen, welche Diagnostik für den Facharzt-Kollegen wichtig sein könnte und diese ggf. schon mal veranlassen, wie zum Beispiel bestimmte Laborwerte. Nichts ist für den Patienten ärgerlicher, als nach einem kurzen Gespräch wieder weggeschickt zu werden, weil erst noch mal „vom Hausarzt Blut abgenommen werden soll“.
Ich mag Algorithmen und Leitlinien auch deshalb, weil man kurz und knackig die notwendigen Schritte in Notfällen übersichtlich dargestellt bekommt.
Wer fällt durchs Raster?
Der Haken an Algorithmen und Leitlinien: Sie sind so schön übersichtlich, dass sie dazu verleiten, sie nur „abzuarbeiten“ und nicht mehr selbst nachzudenken. Solange der Patient ein „klassisches“ Krankheitsbild hat und der ausgesuchte Algorithmus passt, ist ja alles gut – aber leider ist das nicht immer der Fall. Und da die meisten Leitlinien und Algorithmen auf die häufigen Krankheitsbilder abgestimmt sind, fallen dann vor allem diejenigen durch das Raster, die doch eine seltenere Erkrankung haben.
Algorithmen sind Grundgerüste. Ein gutes Grundgerüst ist wichtig, wenn ich ein solides Endergebnis haben will. Der Punkt ist aber, dass das Gerüst alleine nicht alles ist. Ich brauche neben dem Gerüst noch einiges mehr, wenn ein „großes Ganzes“ daraus werden soll, vor allem bei komplexeren Sachverhalten. Im Falle eines Patienten können das seine Mentalität, seine Vorgeschichte oder die genauen Umstände sein, in denen er lebt.
Sie lieben To-Do-Listen
Woher kommt also diese Tendenz, mehr auf den Algorithmus zu achten als auf den Patienten?
Eine für mich plausible Teil-Erklärung kam aus dem Artikel „How the Millenials became the Burn-Out-Generation“. Kurz zur Erinnerung: Millennials sind die Leute, die zwischen Anfang der 1980er und Ende der 1990er Jahre geboren wurden. Also quasi der Großteil der heutigen Jung-Ärzte.
In dem Artikel wird die Theorie aufgestellt, dass gerade die Millennials von klein auf darauf gedrillt wurden, To-Do-Listen abzuarbeiten und Dinge abzuhaken, damit sie es im Leben und vor allem im Job zu was bringen.
Mir geht es dabei jetzt nicht um das Burn-Out-Thema, deshalb führe ich den (sehr lesenswerten!) Artikel hier nicht weiter aus. Mir geht es um diesen Gedankengang des Abarbeitens bzw. Abhakens.
Alles immer abgehakt, nächstes Krankheitsbild
Kann es sein, dass diese Mentalität im Medizinstudium auch Probleme macht?
Von Beginn meines Studiums an und das ist schon Jahre her, denn ich bin kein Millennial, wurde auch ich darauf gedrillt, Listen abzuarbeiten: Den Gegenstandskatalog für das Physikum, den Gegenstandskatalog für die Staatsexamina sowie Multiple-Choice-Tests in Hülle und Fülle.
Die Vorlesungen waren entsprechend. Es wurden vor allem Krankheiten abgearbeitet. Struktur-orientiert wie der Herold: Prävalenz, Symptome, Diagnostik, Therapie. Alles immer abgehakt, nächstes Krankheitsbild.
Wir hatten aber an unserer Uni zumindest noch den Vorteil, dass es einige wenige Professoren gab, die aus der Praxis zurück an die Uni gekommen waren (heutzutage undenkbar?) und ein komplett anderes System unterrichteten: „Ein Patient kommt mit folgenden Symptomen:…. – wie geht’s weiter?“ Klar, auch da braucht man eine klare Struktur, damit man sich nicht verzettelt, aber man bekommt auch einen Eindruck davon, dass ein Patient mehr ist als nur eine Ansammlung von Listen, die man abhaken muss. Dass man die Pathophysiologie und Anatomie verstanden haben muss, um zu wissen, was wo weh tun kann oder welche Beschwerden welche Ursache haben können. Dass man bei der Anamnese mehr machen muss, als nur harte Fakten abzufragen. Und auch nochmal nachfragen muss, manchmal auch mehrfach, bis man die gewünschte Information hat. Kurzum: Dass man als Arzt mehr tun muss, als nur eben eine Liste an Symptomen und Diagnostik abzuhaken.
Was macht das Arzt-Sein aus?
Ich muss noch mal darauf hinweisen: Ich schätze die Algorithmen und die evidenzbasierte Medizin sehr. Ich finde es toll, dass wir dieses ganze Sach- und Fachwissen haben, ich nutze dieses Wissen sehr gerne und ich möchte es auch nicht missen. Gerade auch die kompakte Darstellung, die viele Leitlinien und Algorithmen haben.
Ich glaube aber, dass wir gerade ein bisschen zuviel des Guten machen, wenn wir behaupten, dass Algorithmen alles seien, was das Arzt-Sein ausmacht. Jeder Arzt mit etwas Berufserfahrung kennt Fälle, bei denen zwar die klassischen Messparameter wie etwa Temperatur, Blutdruck und Puls völlig normal waren, der Patient aber trotzdem schlecht aussah und am Ende oftmals eine schwere Erkrankung stand. Das gehört auch mit zum Arzt-Sein.
Diese Antennen für den Patienten, dieses Nachfragen, dieses „Ist wirklich alles ok bei Ihnen?“. Dieses Nachgrübeln, was einem an dem Patienten bzw. dem Krankheitsverlauf „nicht gefällt“. Sicher – bei vielen dieser Patienten kann man solange warten, bis sie objektivierbare Symptome haben. Andererseits gilt bei vielen Erkrankungen, dass man sie umso besser behandeln kann, je früher man sie erkennt. Dazu gehört manchmal auch das ärztliche Bauchgefühl.
Es ist ein Gefühl
Deswegen glaube ich, dass auch auf sowas in der Ausbildung geachtet werden sollte. Struktur beibringen einerseits: Wie komme ich vom Symptom zur Diagnose? Welche Begleitsymptomatik oder Red Flags müssen abgefragt werden? Andererseits müssen die Studenten und Jung-Ärzte aber auch Gelegenheit bekommen, ihr Bauchgefühl zu artikulieren. Am besten so, dass man sich dann gemeinsam mit einem erfahreneren Kollegen überlegen kann, ob es eine Grundlage für dieses Gefühl gibt, die vielleicht auch objektivierbar ist. Vielleicht stellt man fest, dass der andere Kollege es auch hat. Oder eben auch nicht. Aber erstmal das Gefühl als weitere Antenne nutzen und nicht direkt alles abbügeln, was man noch nicht messen kann.
Sonst dürfen wir Ärzte uns auch nicht wundern, wenn wir wie Maschinen nur mit Algorithmen arbeiten und uns dann irgendwann gesagt wird, dass wir das dann doch bitte direkt den Maschinen überlassen sollen. Mit ausreichend Rechenpower können die das nämlich deutlich schneller als wir.
Ich glaube, dass ein Arzt mehr ist als nur Wissen, Algorithmen und Leitlinien. Er ist Ansprechpartner, Mit-Mensch, für viele auch Ratgeber, Lebenshelfer und Begleiter. Alle Rollen des Arztes, speziell des Hausarztes, aufzuzählen, würde wohl den Rahmen dieses Artikels sprengen.
Beschwerden laut Leitlinie
Bei vielen Patienten kann man sich bei den Beschwerden an die Leitlinien halten, bei anderen auch nicht, weil leider die Beschwerden sich auch nicht immer an die Leitlinien halten wie etwa Oberbauchbeschwerden statt klassischer Brustschmerzen bei Herzinfarkten von weiblichen Patienten. Da hilft dann kein Abhaken, da muss man immer wieder selber denken.
Was wollen wir also in Zukunft tun und wer wollen wir sein?
Den Satz „Es gibt Mediziner und Ärzte“ habe ich inzwischen mehrfach von verschiedenen Leuten gehört. Ein Mediziner ist dabei derjenige, der nur auf Zahlen, Fakten und einzelne Symptome pocht, der Arzt derjenige, der versucht, den ganzen Menschen im Blick zu haben, auch wenn das laut Leitlinie vielleicht gar nicht nötig ist.
Sogar im Ärzteblatt wurde diese Diskrepanz schon mal in einem sehr guten Artikel beleuchtet.
Es geht also nicht nur um das Abarbeiten von Listen und Algorithmen, sondern es geht im Grunde um das Selbstverständnis von uns Ärzten:
Was wollen wir sein?
Wollen wir Mediziner sein, die sich auf ihr Faktenwissen und ihre Algorithmen zurückziehen?
Oder sind wir Ärzte mit all den Facetten, die das Arzt-Sein mit sich bringt? Den Wissens-Aspekten, dem „Bio-Psycho-Sozialen Kontext“, wie das im Allgemeinmediziner-Jargon manchmal heißt, man könnte auch salopp sagen „dem ganzen Drumherum“? Sehen wir den Patienten dann nicht besser, weil auch der Patient mehr ist als nur Zahlen und Symptome? Und flüchten nicht manche Patienten genau deswegen vor der Schulmedizin, eben weil sie sich da auf messbare Parameter reduziert fühlen?
Für mich ist die Antwort klar. Ich bin Ärztin! Ich schätze das medizinische Grundgerüst und schaue, dass meine Diagnostik und Therapie immer so weit es irgend geht auf einer wirklich soliden medizinischen und möglichst leitlinienkonformen Basis steht. Und dann schaue ich, wo ich im Sinne des Patienten die Details meiner wissenschaftlichen Arbeit auf den Patienten anpassen muss, z.B. wegen seiner Vorerkrankungen, seiner Vorgeschichte, seinem „bio-psycho-sozialen Kontext“). Denn wie oben beschrieben:
Gute ärztliche Krankenversorgung ist angewandte Wissenschaft – angepasst für jeden einzelnen Patienten!
Bildquelle: RyanMcGuire, pixabay