Kaum ein älterer Patient verlässt die Hausarztpraxis ohne Statin-Rezept. Und während die Verordnungszahlen weiter steigen, streiten Experten über den Sinn und Unsinn der Lipidsenker. Wer profitiert also tatsächlich von den Pharmaka?
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert werden standardmäßig Statine zur Cholesterinsenkung verordnet. Der Arzneiverordnungsreport zeigt: Ärzte verschreiben das Medikament sehr großzügig und zwar mit einem Gesamtvolumen, das zur Versorgung von 5,8 Millionen Patienten ausreicht. Die Verordnungszahlen zeigen auch: Der Trend geht weiter nach oben. Dies sorgt dafür, dass die Diskussion um das Pro und Contra immer hitziger geführt wird.
Manche Wissenschaftler wollen bei weitaus mehr Menschen den Cholesterinwert im Serum senken, andere fordern restriktivere Verschreibungen von Statinen. Ihre Standpunkte im Überblick.
Pro: Kaum Nebenwirkungen, starke Effekte
Rory Collins von der University of Oxford gilt als starker Befürworter der Statintherapie. In einem Übersichtsartikel nennt er wesentliche Argumente:
Der Nutzen übersteige das Risiko möglicher Nebenwirkungen, und zwar auch bei der Primärprävention, schreibt Collins. Er macht sich für einen breiteren Einsatz der Arzneistoffe stark.
Contra: Jede zweite Verordnung überflüssig?
Henock G. Yebyo und Milo Puhan von der Universität Zürich bewerten Statine weniger euphorisch. „Letztendlich wird nur bei wenigen Personen ein Herzinfarkt oder ein Hirnschlag vermieden“, wird Puhan in einer Meldung zitiert. „Aber alle Personen können potenziell Nebenwirkungen durch Cholesterinsenker erleiden.“
Um eine Empfehlung für die Einnahme von Statinen abzugeben, errechnen Ärzte anhand verschiedener Risikofaktoren wie beispielsweise Cholesterinspiegel, Bodymassindex und Rauchen, wie hoch das Risiko einer Person ist, in den nächsten 10 Jahren einen Herzinfarkt oder Hirnschlag zu erleiden. Viele medizinische Richtlinien raten, ab einem Risiko von 10 % mit der Einnahme von Statinen zu beginnen. Es gibt aber auch Richtlinien, die dies schon ab einem Risiko von 7,5 % empfehlen, während eine Schweizer Hausärztevereinigung den Schwellenwert bei 20 % ansetzt.
Gemäss solcher Empfehlungen, die meist von kardiologischen Gesellschaften verfasst sind, müssten über ein Drittel aller 40- bis 75-Jährigen präventiv Cholesterinsenker einnehmen – weltweit wären dies Hunderte Millionen von Menschen. Laut Puhan wurde jedoch bisher der Effekt von Nebenwirkungen – darunter Muskelschmerzen, Grauer Star, Leberschäden oder Diabetes – bei der Erstellung von Richtlinien kaum berücksichtigt: „Die Schwellenwerte wurden von den Experten ohne systematische Untersuchungen so festgelegt.“
Bleibt die Frage, bei welchen Personen Statine einen Netto-Mehrwert bieten. Deshalb analysierten die Forscher bereits veröffentlichte Studien. Eingeschlossen wurden Probanden zwischen 40 und 75 Jahren ohne kardiovaskuläre Erkrankungen in der Vorgeschichte.
Vor allem für Senioren wurde der Nutzen von Statinen bis jetzt anscheinend stark überschätzt: Für die Altersgruppe der 70 bis 75-Jährigen errechnete das Modell einen Schwellenwert von etwa 21% – das heißt, erst ab einem Risiko von 21%, in den nächsten 10 Jahren einen Herzinfarkt oder Hirnschlag zu erleiden, überwiegt der Nutzen von Statinen die Schäden durch mögliche Nebenwirkungen.
Für 40-45-jährige Männer und Frauen lag der Schwellenwert mit 14 % bzw. 17 % etwas niedriger. Die Forscher bestätigen europäische Empfehlungen, sehen aber Defizite bei deren Umsetzung: „Es hat sich gezeigt, dass Statine heute wohl deutlich zu häufig empfohlen werden“, schreibt Puhan. Er schätzt, dass man anhand seiner Schwellenwerte die Zahl an Statinverordnungen halbieren könnte.
Wirkung auch im Alter
Dass Risikogruppen von Statinen profitieren, stellen Yebyo et al. nicht infrage. Doch es gab lange Zeiten Defizite bei der Studienlage. Wie sieht es bei Menschen über 75 aus, die rein statistisch noch eine Lebenserwartung von 14 bis 17 Jahren haben?
Neue Erkenntnisse kommen von der Cholesterol Treatment Trialists' Collaboration, einem Forschungsverbund. Basis ihrer Metaanalyse waren 28 große randomisierte Studien mit 187.000 Personen. Von ihnen waren 8 % älter als 75.
Jede Senkung des LDL-Cholesterins um 1 mmol/l verringerte kardiovaskuläre Risiken um 21 %. Bei koronaren Revaskularisationen waren es 25 % und bei Schlaganfällen 16 % weniger. Die Forscher fanden einen leichten, statistisch aber nicht signifikanten Rückgang des Effekts, wenn Patienten etwas älter waren.
„Trotz Abschwächung der Wirkung von Cholesterinsenkern mit zunehmendem Alter ist ihr Einsatz auch bei Patienten im Alter über 75 Jahren zu rechtfertigen; insbesondere, falls ausgeprägte kardiovaskuläre Risikofaktoren bestehen“, schreibt Bernard Cheung in einem Kommentar. Er forscht an der University of Hong Kong. Wie bei jeder Pharmakotherapie seien vom Arzt Nutzen und Risiken gegeneinander abzuwägen. Speziell bei geriatrischen Patienten mit begrenzter Lebenserwartung kann es sinnvoll sein, Statine abzusetzen.
Vergiss mein nicht
Ob die Einnahme von Statinen zum Erfolg führt, ist auch, wenig überraschend, abhängig von der Therapietreue der Patienten. Hochwertige Daten gab es bisher nicht. Fatima Rodriguez von der Stanford University schließt die Lücke mit einer Kohortenstudie. Basis der Arbeit waren Daten von 350.000 Patienten mit atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankungen und Statin-Langzeittherapie. Als Maß für die Adhärenz bildete Rodriguez einen Quotienten aus der durchschnittlichen Zahl an Tagen mit Medikamenten im Haushalt, geteilt durch die gesamte Behandlungsdauer. Sie nennt ihre Größe „Medication Possession Ratio“ (MPR). Basis waren Verschreibungsdaten.
Innerhalb von knapp drei Jahren starben 85.930 Personen (24,8 Prozent) aus der Kohorte. Zur weiteren Auswertung bildete Rodriguez Gruppen mit einer MPR von weniger als 50 Prozent, 50 bis 69 Prozent, 70 bis 89 Prozent und 90 oder mehr Prozent. Verglichen mit der obersten Gruppe hatten Patienten ein um 30 Prozent (MPR unter 50 Prozent), ein um 21 Prozent (MPR zwischen 50 und 69 Prozent) bzw. ein um 8 Prozent (MPR zwischen 70 und 89 Prozent) erhöhtes Sterberisiko. Ziel von Ärzten müsse es deshalb sein, die Theapietreue zu maximieren, schreibt Rodriguez.
Ob andere Faktoren ebenfalls eine Rolle spielen, bleibt offen. Halten sich Patienten nicht an Empfehlungen ihres Arztes zur Pharmakotherapie, befolgen sie möglicherweise Ratschläge zur Ernährung oder Bewegung auch nicht. Ann Marie Navar vom Duke Clinical Research Institute in Durham, North Carolina, schreibt in einem Editorial: „Unsere Gesellschaft hat hunderte Millionen Dollar für die Forschung ausgegeben, um zu beweisen, dass Statine Leben retten. Die Studie von Rodriguez et al. erinnert uns daran, dass ohne Verbesserungen der Medikamenteneinhaltung der volle Nutzen dieser Investition niemals realisiert werden kann.“ Nicht umsonst trägt ihre schriftliche Stellungnahme den Titel: „Statins Work, But Only in People Who Take Them“.
Bildquelle: zoe pappas, pexels