Politiker versuchen bereits seit Jahren, unser Gesundheitswesen zu reformieren. Vergleiche mit Nachbarländern zeigen jetzt, dass wichtige Ansätze fehlen, etwa eine Basisversicherung für alle oder Qualität als Wettbewerbskriterium.
Wettbewerb im Gesundheitswesen ist per se nichts Negatives, sondern gut für Patienten: Diese These haben Professor Dr. Thomas Wüstrich, Timo Blenk und Dr. Nora Knötig im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung untersucht. Ihre Arbeit entstand an der Fakultät für Betriebswirtschaft, Universität der Bundeswehr, München. Als Vergleich zogen die Forscher geglückte Reformbemühungen aus der Schweiz und aus den Niederlanden heran. Ihr Fazit: Deutschland könnte viel von den unmittelbaren Nachbarn lernen, auch wenn so manche Reform politisch wenig populär wäre.
Wenig überraschend stellt die Arbeit Krankenhäuser und Arztpraxen beziehungsweise Krankenversicherungen in den Fokus. Dazu einige Zahlen: In 2014 gaben GKVen 205,33 Milliarden Euro aus. 32,7 Prozent gingen an Kliniken, 16,0 Prozent an Ärzte, und 14,9 Prozent waren für Medikamente bestimmt. Reine Verwaltungskosten schlugen mit 4,9 Prozent zu Buche. Sowohl die Niederlande als auch die Schweiz setzen in erster Linie bei der ambulanten und stationären Versorgung an, wobei auch Kostenträger nicht ungeschoren davonkommen.
Das eidgenössische Gesundheitssystem zeichnet sich durch einige Besonderheiten aus. Dazu gehört die Grundversorgung über einheitliche Basistarife. Wer in der Schweiz wohnt, muss sein Scherflein beitragen – ohne Wenn und Aber. Politikern ist es in der Folge gelungen, weitaus mehr Bürger an der medizinischen Grundversorgung teilhaben zu lassen. Durch Reformen haben sich Beiträge für fast alle Patienten verringert. Das neue System bietet viele Wahlmöglichkeiten, um Versicherten mehr Eigenverantwortung zu geben. Auf dem freien Markt stehen viele Angebote bereit, um individuelle Risiken abzusichern oder um speziellen Wünschen Rechnung zu tragen. Als Beispiele nennt die Untersuchung alternativmedizinische Leistungen, die medizinische Versorgung im Ausland, Zahnbehandlungen oder Kuren. „Grundsätzlich schafft die schweizerische Differenzierung in Basis- und Zusatzversicherung die Voraussetzung für die Überwindung der Dualität von privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen“, schreiben Thomas Wüstrich, Timo Blenk und Nora Knötig. Davon ist Deutschland meilenweit entfernt.
Heimische Gesundheitspolitiker könnten sich auch von eidgenössischen Managed-Care-Modellen eine Scheibe abschneiden. Die große Mehrheit aller Schweizer hat bereits entsprechende Verträge paraphiert, um in den Genuss wirtschaftlicher Vorteile zu kommen. Wüstrich, Blenk und Knötig sehen darin einen Garanten für niedrigere Kosten, aber auch für mehr Innovation. Wettbewerbliche Elemente hätten letztlich zu höheren Ausstattungsstandards und zu mehr Service geführt, lautet ihr Resümee. Einheitliche Rahmenbedingungen helfen, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Bei neuen, innovativen Arzneimitteln halten die Autoren eine stärkere Kostenkontrolle für erwägenswert.
Auch in den Niederlanden gehört Managed Care in Form von hausärztlichem „Gatekeeping“ zur Regelversorgung. Durch neue Reformen haben Gesundheitspolitiker mehr Wettbewerb zwischen Leistungserbringern, aber auch zwischen Krankenkassen gefördert. Gesetzliche Versicherungen bekamen größeren Spielraum, um anhand von Qualitätskriterien selbst zu entscheiden, mit wem sie Verträge abschließen. Hier sehen die Autoren für Deutschland wichtige Impulse, weil es „trotz regionaler Ungleichgewichte tendenziell ein Überangebot an niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern gibt“. Außerdem arbeiten unsere Nachbarn stärker mit Gruppenverträgen als Steuerungsinstrument. Versicherte wechseln aufgrund finanzieller Anreize ihre Kasse – ein wichtiges Instrument des Wettbewerbs.
Dieser Aspekt ist auf Deutschland jedoch nur eingeschränkt übertragbar, wie Untersuchungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigen. So wussten lediglich 18 Prozent etwas zur neuen Beitragssatzregelung. Obwohl fast alle Kassen seit Anfang 2015 individuelle Zusatzbeiträge erheben, haben nach eigenem Bekunden magere 17 Prozent davon gehört. 20 Prozent denken, dass dieser Obolus als pauschaler Fixbetrag erhoben wird. Angesichts dieser Wissenslücken erstaunt nicht wirklich, dass monetäre Anreize kaum zum Kassenwechsel führen. Weniger als zehn Prozent gaben bei der Umfrage an, ihrer GKV eventuell den Rücken zu kehren. Nur drei Prozent hatten konkrete Pläne. Trotz dieser Einschränkungen zeigen die Niederlande eine interessante Perspektive auf. Beim Nachbarn hat sich die Transparenz für Versicherte deutlich verbessert, etwa durch unabhängige Vergleichsportale und durch neutrale Rankings. Dem Nachbarn geht es nicht nur darum, Konkurrenz zu schaffen. Politiker wollen ein deutlich höheres Serviceniveau erreichen.
Und die Moral von der Geschicht'? Seit Einführung des Kassenwahlrechts für gesetzlich Versicherte hat sich die Zahl an GKVen von mehr als 1.200 auf 123 verringert. Momentan läuft viel Konkurrenzkampf auf Ebene der Zusatzbeiträge ab. Der erhoffte Qualitätswettbewerb ist ausgeblieben, lautet ein Fazit. „Was den Wettbewerbsparameter Versorgungsqualität angeht, so ist hier zunächst an eine Ausweitung der selektivvertraglichen Gestaltungsoptionen zu Lasten kollektivvertraglicher Vereinbarungen zu denken“, schreiben Wüstrich, Blenk und Knötig. „Zur Stärkung des Solidarprinzips und zur Hebung weiterer Effizienzpotenziale ist eine Überwindung der bisherigen Dualität von PKV und GKV zu erwägen.“