Diese Schlagzeile traf uns Neurologen schwer: „Roche stoppt Studie mit Alzheimer-Medikament“. Denn es ist, nach vielen Misserfolgen, ein weiterer herber Rückschlag in der Therapieforschung der Alzheimer-Demenz. Wie geht es nun weiter?
Am 30. Januar 2019 hat der Arzneimittelhersteller Roche bekannt gegeben, dass eine laufende Phase-3-Studie mit dem monoklonalen Antikörper Crenezumab mit sofortiger Wirkung beendet würde. Crenezumab ist so konzipiert, dass es präferenziell an die oligomere, besonders toxische Form von Beta-Amyloid (darunter auch das stark aggregierende Aß 1-42) bindet und so für eine schnellere Entfernung des fehlgefalteten Proteins aus dem Gehirn sorgt.
Eine Interimsanalyse habe ergeben, dass der primäre Endpunkt bis zum geplanten Ende der Studie nicht mehr zu erreichen sei. Mit anderen Worten: Der potenzielle neue Wirkstoff ist nicht besser als Placebo. Als ich – wir sind derzeit selber an einer ähnlichen Studie beteiligt – mit einem Kollegen über diesen Umstand sprach, waren wir uns darüber einig, dass wir es hier in einer langen Reihe von Misserfolgen der letzten fast 20 Jahre mit einem weiteren herben und betrüblichen Rückschlag in der Therapieforschung der Alzheimer-Demenz zu tun haben.
Das betrifft sehr unterschiedliche Therapieansätze: neben den Amyloid-AK, sogenannte Sekretase-Hemmer, Tau-modulierende Substanzen wie Methylenblau oder neuartige symptomatische Behandlungsstrategien. Warum ist das so? Dazu zunächst ein kleiner Rückblick.
Als Alois Alzheimer am 3. November 1906 seinen Vortrag „Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde“ in der Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte in Tübingen hielt, ahnte er definitiv nicht, welche Karriere diese „seine“ Krankheit gegen Ende des 20. Jahrhunderts machen würde.
Mittlerweile gilt der Morbus Alzheimer nach den Erkrankungen durch Krebs oder aus kardiovaskulärer Ursache als eines der gesellschaftlich relevantesten medizinischen Probleme. Er ist mit ca. 70 % die weitaus häufigste Ursache einer Demenz bei Patienten über 50 Jahren. Es ist deshalb nicht überraschend, dass potenziell neue therapeutische Entwicklungen bei der Alzheimerkrankheit mit Argusaugen beobachtet werden.
Derzeit gibt es nämlich außer den symptomatischen Behandlungsansätzen mit den Acetylcholinesterase-Hemmern und Memantine keine weiteren medikamentösen Therapieoptionen. Insbesondere existieren keine krankheitsmodifizierenden Therapien, von kausalen Ansätzen ganz zu schweigen. Das bedeutet im Umkehrschluss allerdings nicht, dass zum jetzigen Zeitpunkt therapeutischer Nihilismus angesagt wäre.
Die zur Verfügung stehenden Maßnahmen medikamentöser und besonders auch nicht-medikamentöser Natur, insbesondere eine qualitativ hochwertige Betreuung durch Angehörige oder auch institutionell, können den Verlauf einer dementiellen Erkrankung nachgewiesenermaßen mehrere Jahre stabilisieren. Das ist allerdings ein anderes Thema.
Hier soll beleuchtet werden, warum es so schwierig ist, wirksamere Medikamente gegen die sporadisch (im Gegensatz zur genetisch bedingten familiären Alzheimererkrankung) auftretende Alzheimerkrankheit zu finden. Im Standardmodell der Alzheimerdemenz - das ist das Stadium einer Alzheimererkrankung, in dem klinische Symptome festgestellt werden können - z.B. illustriert von Jack und Kollegen 2013, geht man davon aus, dass ihre Entwicklung durch eine bestimmte Abfolge von pathophysiologischen Prozessen gekennzeichnet ist.
Die Akkumulation von Beta-Amyloid wird gefolgt von Prozessen der Neurodegeneration, d.h. dem Untergang von Neuronen, meßbar als Atrophie in der MRT-Bildgebung und als erhöhte Konzentration, besonders von phosphoryliertem Tau im Liquor zerebrospinalis. Der Untergang der Neurone selber hat wiederum eine relativ systematische räumliche Abfolge im Gehirn.
Das Standardmodell der Alzheimer-Demenz oder auch die sogenannte Amyloid-Kaskadenhypothese ist wesentlich motiviert worden durch die Untersuchung von Prozessen bei Familiärer Alzheimer-Krankheit (FAD), bei der es durch spezifische Mutationen zu einer beschleunigten Anhäufung von Beta-Amyloid und einem Auftreten von Krankheitssymptomen bereits zwischen 30 und 40 Jahren kommen kann. In unserer eigenen Gedächtnisambulanz waren die jüngsten Patienten mit einer FAD bei den ersten klinischen Symptomen 27 Jahre alt.
Beginnen wir mit den Problemen. Das Standardmodell erfreut sich keineswegs ungeteilter Zustimmung. So haben Braak und Kollegen (2013) aufgrund eigener Daten hypothetisiert, dass Tau-assoziierte Prozesse die Beta-Amyloid Pathologie induzieren und nicht ungekehrt. Unabhängig von der zeitlichen Abfolge und der exakten kausalen Verknüpfung von Tau- und Amyloid-assoziierten Prozessen gibt es auch noch die Annahme, dass beide Prozesse möglicherweise relevant durch weitere, noch nicht genau definierte Prozesse angestoßen werden.
Das heißt, wir haben es hier mit einem Bündel von Ursachen mit komplexer Wechselwirkung zu tun, von denen allerdings zwei, nämlich Tau und Beta-Amyloid, besonders „schuldig“ erscheinen. Dafür spricht beispielsweise der wichtige Befund, dass die Patienten mit einer leichten kognitiven Störung, bei denen eine Erniedrigung von Beta-Amyloid im Liquor nachgewiesen wird, in den nächsten Jahren eine signifikant erhöhte Wahrscheinlichkeit haben, eine Alzheimer-Demenz zu entwickeln. Und zwar im Gegensatz zu Patienten, die eine solche Biomarker-Veränderung nicht aufweisen.
Bei einer leichten kognitiven Störung (engl. Mild Cognitive Impairment, MCI) liegt klassischerweise eine Beeinträchtigung des Gedächtnisses vor; die Bewältigung des Alltags ist aber immer noch gut möglich. Der genannte Befund gehört zu denen, die in jüngerer Zeit wiederum die Entwicklung von Antikörpern wie Crenezumab motiviert haben, die eine beschleunigte Elimination von Beta-Amyloid aus dem Gehirn bewirken sollen. Bedeutet also der Negativbefund für Crenezumab und andere Antikörper, dass dieser Ansatz grundsätzlich falsch ist? Nein, und hier beginnt gleich das nächste Problem.
Bereits bei Patienten mit einem MCI ist nämlich die Akkumulation von Beta-Amyloid schon weit fortgeschritten. Sie beginnt ca. 10 bis 15 Jahre bevor sich manifeste kognitive Beeinträchtigungen zeigen und es stellt sich die wichtige Frage, ob man zu diesem Zeitpunkt noch wesentliche Effekte erzielen kann oder möglicherweise Prozessen, die zwar durch Beta-Amyloid induziert wurden, aber sich mittlerweile verselbständigt haben, hinterherläuft.
Das wiederum wirft die Frage auf, ob man Risikopatienten bereits zu einem früheren Zeitpunkt identifizieren kann, z.B. dann, wenn sie bereits subjektiv eine Abnahme ihrer kognitiven Fähigkeiten beklagen. Ein Stadium, das in jüngerer Zeit als subjektive kognitive Beeinträchtigung konzeptualisiert wurde.
Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob die Gedächtnisdefizite wirklich das früheste Symptom einer sich ankündigenden Alzheimer-Demenz sind. Mein Schwiegervater, um ein sehr persönliches Beispiel anzuführen, der an einer Alzheimer-Demenz erkrankte und verstarb, beklagte zunächst einen unspezifischen Benommenheitsschwindel und einen diffusen Kopfdruck, bevor er sich erstmals auf einer zugegeben etwas verwickelten Strecke verfuhr, die er seit 15 Jahren regelmäßig zurückgelegt hatte, um im Harzvorland einen ökologisch erzeugten Honig zu kaufen.
Das gestand er peinlich berührt seiner Ehefrau und zunächst blieb es bei dieser einmaligen Episode. Später traten dann die typischen Gedächtnissymptome hinzu. Als meine Frau nach seinem Tode seinen Schreibtisch ordnete, konnte sie sehr eindeutig nachvollziehen, dass er bereits ca. 1,5 Jahre vor dem Auftreten der geschilderten Initialsymptome, das Schreiben von Briefen eingestellt hatte, die er im Abstand von wenigen Wochen – er war ein emsiger und sehr beredter Briefeschreiber – an einen gleichaltrigen, ergrauten Försterkollegen verfasste.
D.h., dass möglicherweise allgemeine motivationale oder andere komplexe Defizite, die man frontalen Strukturen zuschreiben würde, wie zum Beispiel, dass ich für einen Brief aus der Menge meiner persönlichen Erlebnisse eine spezifisch auf den Adressaten zugeschnittene Gewichtung vornehmen muß, deutlich früher beeinträchtig sind, als klassisch untersuchte Defizite des Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnisses.
Das geschilderte persönliche Beispiel soll aufzeigen, warum es aktuell verschiedene Bestrebungen gibt, Patienten mit einem erhöhten Risiko hinsichtlich der Entwicklung einer Alzheimer-Demenz früher zu identifizieren. Beim eingangs erwähnten Crenezumab verhält es sich nun so, dass es weiter präventiv bei kognitiv gesunden Individuen einer Population von Personen mit einer FAD in Kolumbien gegeben wird, die aufgrund einer autosomal dominanten Mutation hochwahrscheinlich in der Zukunft eine Alzheimer-Demenz entwickeln werden.
D.h., hier versucht man zu einem frühest möglichen Zeitpunkt modifizierend in den Amyloid-Mechanismus einzugreifen. Weitere aktuell in klinischen Phase-3-Studien untersuchte Beta-Amyloid-Antikörper sind Gantenerumab von Roche und Aducanumab von Biogen. Was passiert, wenn auch diese Studien negativ sind?
Eine Option besteht darin, Patienten zu einem noch früheren Krankheitszeitpunkt zu untersuchen. Eine andere Option besteht darin, Kombinationen sowohl Tau- als auch Beta-Amyloid modifizierender Substanzen oder auch ganz neue Wirkstoffkombinationen zu untersuchen. Es ist jedoch keinesfalls gerechtfertigt, die Flinte zu diesem Zeitpunkt ins Korn zu werfen oder Trübsal zu blasen; das lehren die Erfolge bei anderen, zunächst als unheilbar geltenden Erkrankungen, die sich nach vielen Misserfolgen dann doch eingestellt haben.
Artikel von Andreas Lüschow
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