Mangelernährung war während meiner Ausbildung vor 30 Jahren kein Thema. Heute hört man von zehntausenden Patienten, die daran sterben. Es heißt, Ernährungsmedizin müsse eine größere Rolle spielen. Aber das hat sie früher auch nicht so sehr. Was war anders?
Ich kann mich nicht erinnern, dass Mangelernährung in dem kleinen Krankenhaus meiner Ausbildung je ein Thema gewesen wäre. Heute liest man vermehrt darüber, sieht Bilder von sehr übersichtlichen Essentabletts, bestückt mit einer Halbfett-Margarine, einer Tomate und einem Teil, das aussieht wie ein Brot. Darunter ein trauriger Kommentar: „Mein Abendessen“. In etwa so:
Bildquelle: Zusendung eines DocCheck Users. Weitere Bilder findest du hier.
Man erfährt von Pärchen, die zufällig gleichzeitig im Krankenhaus lagen: Eine privat, der andere Kasse. Hier ein Essen wie im Hotel, dort übersichtlich bis traurig. Man hört in den Nachrichten von Kliniken, die das Patientenessen angeblich aus Fernost einfliegen lassen, weil es günstiger ist. Man sieht und liest immer wieder Berichte über Patienten, die fast an ihren Mangelernährungen verstorben wären. Die ARD spricht in einem Bericht von zehntausenden Patienten, die sogar daran sterben. Verhungert im Krankenhaus.
In Deutschland?, fragt man sich verwundert. In diesem reichen Land soll es nicht möglich sein, einen kranken Patientenkörper ausreichend mit Energie, Proteinen, Vitaminen und Mineralstoffen zu versorgen? Und das, obwohl wir wissen, dass unzureichende Nahrung das Risiko für verschiedene Erkrankungen sowie das Sterberisiko steigert. Wie kann das sein?
Als Schwester Getrud sich noch kümmerte …
Früher war das anders: Die Frühstückszeit war in meinem ersten Krankenhaus sehr beliebt. Essen hält Leib und Seele zusammen. Um halb zehn wurde ein großer Teewagen mit einer Kanne Buttermilch, verschiedenen Sorten Tee sowie einer klaren Brühe mit Petersilie beladen. Damit zogen wir durch die Zimmer. „Tee, Brühe oder Buttermilch?“ Manch witziger Zeitgenosse ergänzte noch: „Aber wir haben keine Muttermilch!“ Was für ein Schenkelklopfer. Vor gut dreißig Jahre lachte man über derlei herbe unwitzige Späße.
Manchmal ging auch die Stationsschwester mit. Um uns mal zu zeigen, wie eine „anständige Patientenversorgung“ geht. Was für sie bedeutete: Die wichtigen Patienten – also die besonders netten oder besonders bemitleidenswerten Patienten – bekamen von ihr auch mal ein Süppchen Spezial mit Ei in der Brühe. Oder es wurde aus der Küche ein Schüsselchen Grießbrei mit Kompott geholt, der immer vorrätig war. Das heißt natürlich: Die Schülerinnen holten, Schwester Gertrud überreichte persönlich.
Wer nicht aß, fiel auf
Mittags kam das Essen auf noch größeren Wagen in dampfenden Edelstahltöpfen. Daneben ein Wagen mit Tellern und Besteck. Für jeden wurde das Essen einzeln zusammengestellt und mit den großen Kellen auf Tellern geklatscht. So zog die Essensausgabe-Karavane durch die Flure, trennte sich und kam wieder zusammen, nebenbei wurde kleingeschnitten und den Patienten geholfen.
Morgens und abends wurde ähnlich verfahren. Ich stellte immer wieder die gleichen Fragen und die Patienten mussten immer wieder überlegen, ob es denn nun Weiß-, Schwarz-, Misch oder Vollkornbrot sein sollte. Das Frage-Antwort-Spiel verfolgte mich bis in meine Träume.
Stationshilfen gab es damals nicht. Alles machten wir, die Krankenschwestern und Pfleger, wie es damals noch hieß, und natürlich die Schüler. Wenn hier einer nicht oder nur sehr zögerlich aß, fiel es direkt auf. Dann wurde mit der Küche telefoniert und gefragt, ob sie nicht ein paar Pellkartöffelchen hätten, auf die der schwerkranke Patient so Appetit hatte. Mit einem Klacks Butter, bitte.
Und dann kam das Tablettsystem
Diesen Luxus, eine eigene Küche im Haus zu haben, haben heute nicht mehr viele Kliniken. Zu kostspielig. Zu aufwendig. Vor fast dreißig Jahren waren die Extrawürste kein Problem.
Nach und nach wurde aber auch in meinem kleinen Krankenhaus modernisiert. Aus den Essenswagen mit offenen Töpfen wurden Wagen mit einem Tablettsystem. So viel moderner, soviel praktischer und so schön hygienisch. Wer konnte da widerstehen? Es gab viele gute Gründe dafür und ebenso viele dagegen: Ein Tablett mit einem abgedeckten Teller wird keiner der Pflegekräfte nachträglich inspizieren. Vorher sah man, was und wie viel gegessen wurde. Das war vorbei. Deckel drauf und ab damit.
Der Pflege bleibt zu wenig Zeit
Die Ursachen für eine unzureichende Nahrungsaufnahme können vielfältig sein und reichen von Appetit- oder Kaustörungen bis hin zu Medikamentennebenwirkungen. Patienten können diese Probleme von zu Hause mit in die Klinik gebracht haben, aber sie können sich dort auch durch einen längeren Aufenthalt entwickelt haben.
Vieles wäre zu Zeiten der Stationsschwester Gertrud – Gott hab sie selig – dem Pflegepersonal aufgefallen. Pflegepersonal, das heute händeringend gesucht und nicht gefunden wird. Dafür gibt es nun Hilfskräfte, die das Essen verteilen und wieder einsammeln – meist ohne grundlegende Schulung. Das mag auch ein Grund sein, dass Menschen im Krankenhaus verhungern können. Es wird nicht bemerkt, weil die Pflege keine Zeit hat, sich um Grundlegendes zu kümmern. Nach Liliane Juchli gibt es die Aktivitäten des täglichen Lebens, die von Pflegekräften unterstützt, begleitet und betreut werden müssen. Dazu gehört auch die Nahrungsaufnahme. In Zeiten des Pflegenotstands wird auch das, oft aus Zeitnot, outgesourct. Ein Fehler.
Mangelernährungen bemerken und gegensteuern
Ebenso fehlt meistens ein Eingangsscreening, um eine Mangelernährung von Anfang an zu erkennen und gegensteuern zu können, wie es in den Niederlanden der Fall ist. Das Gesundheitsministerium setzt hier auf die Eigenverantwortung der Kliniken. Aber warum sollten diese eigenverantwortlich handeln, wenn es in einem kapitalistisch geprägten System, wie es unser Gesundheitssystem derzeit ist, dafür kein Geld gibt?
Mangelernährung verursacht jährlich Zusatzkosten von neun Milliarden Euro, hieß es in dem oben erwähnten ARD-Bericht des Magazins „Plus Minus“ (Quelle: CEPTON Studie 2007). Bisher wurde Mangelernährung nicht ganz explizit im Entgeldsystem abgebildet, wie es immer so schön heißt, und somit schlechter vergütet. Welchen Grund also sollten Kliniken haben, sich im Besonderen um eine gute Ernährung zu kümmern?
Die Kosten für die Patientenverpflegung sanken im Zeitraum zwischen 2006 und 2016 laut dem Deutschen Krankenhausinstitut von 12,83 Euro auf 11,02 Euro pro Kopf. Und das obwohl die Lebensmittelpreise und Lohnkosten gestiegen sind. 14 Prozent Ersparnis sind 14 Prozent Ersparnis. Und möglicherweise kann der ein oder andere Klinikkonzern ein weiteres Fleißsternchen in der Geschäftsführeretage verteilen.
Geld wird mit Krankheit verdient
Seit Anfang dieses Jahres gibt es nun erstmals einen Code für Ernährungsmedizin in diesem Entgeldsystem. Kliniken können ihre Kosten, die durch Mangelernährung verursacht werden, nun also angeben. Ob das etwas ändern wird?
In den Niederlanden sparen sie mit einem Eingangsscreening viel Geld und vermeiden somit eine längere Verweildauer im Krankenhaus. Aber ob in Deutschland der Wille zur Veränderung stark genug ist, weiß ich nicht. Geld verdient wird hier immer noch mit Krankheit. Nicht mit Gesundheit – so bitter das auch sein mag.
Gibt es doch Grund zur Hoffnung?
Dann besuchte ich eine Bekannte im Krankenhaus. Ich kam zur Mittagsessenzeit. Während sie den Löffel weglegte, schwärmte sie mir vor, wie herrlich das Essen sei. „Abwechslungsreich und immer auch mit etwas Frischem. Gar nicht so, wie man es kennen würde.“
Nanu? Wollte ich nicht gerade das Wehklagelied der Verkommenheit Deutscher Klinikmenüs anstimmen? So schlecht und so ungesund? Den Wöchnerinnen wird Kohlgemüse und immer Fleisch serviert? Nichts Frisches und wenn, dann bis zur Unkenntlichkeit verkocht?
An der Wand hing der Speiseplan für die nächsten zwei Wochen. Drei verschiedene Gerichte zur Auswahl. Eins davon vegetarisch und keineswegs nur Nudeln mit Tomatensauce. Außerdem der Vermerk, dass man sich gemeinsam um eine Lösung bei besonderer Ernährungsformen wie vegan, gluten- oder lactosefrei bemühen würde. Frisches Obst sowie Salat bei jedem Essen. Bulgur- Salat zum Abendbrot. „Jeden Tag kommt jemand und fragt, was ich essen möchte!“
Vielleicht ein Anfang?
Scheinbar gibt es dann trotz Studien auch Kliniken, in denen ein anderer Wind weht. In denen man sich bemüht, eine der wenigen Höhepunkte im Krankenhausalltag so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich war überrascht und hoch erfreut. Meine Stationsschwester Gertrud hätte zufrieden genickt.
Vielleicht hat doch ein Umdenken stattgefunden. Möglicherweise nicht überall. Aber Anfänge scheinen durchaus da zu sein und der Wille, es besser als dem schlechten Ruf entsprechend zu machen.
Bildquelle: Julia Taylor, flickr