Häufig wird davor gewarnt, dass Analgetika den Nieren schaden. Nun zeigt eine Studie, dass Analgetika auch bei jungen gesunden Probanden Nierenschäden hervorrufen können. Was ist dran am Mythos Analgetika-Niere?
Der unkritische Konsum von Schmerzmitteln wie Acetylsalicylsäure, Ibuprofen und Diclofenac birgt zahlreiche Risiken. Häufig wird davor gewarnt, dass Schmerzmittel „auf die Nieren“ gehen. Jetzt berichtet eine aktuelle Studie, dass nicht nur Risikopatienten vom Analgetika-Gebrauch Nierenschäden entwickeln können. Selbst junge, gesunde Menschen sind davon betroffen. Was ist dran am Mythos „Analgetika-Niere“?
Mitte der 1980er Jahre hat Prof. Dr. Michael J. Mihatsch von der Universität Basel eine bahnbrechende Entdeckung gemacht. Er fand heraus, dass Schmerzmittel wie Phenacetin und Paracetamol dafür verantwortlich sind, dass tausende Patienten einen toxischen Nierenschaden erleiden, eine sog. Analgetikanephropathie. Er war der Überzeugung, dass das in den 1980er Jahren weit verbreitete Analgetikum Phenacetin, aber auch andere Schmerzmittel wie etwa aus der Klasse der nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) die Nieren schädigen können und Patienten dadurch langfristig dialysepflichtig werden.
„Ich favorisierte die Hypothese, dass Paracetamol, der Hauptmetabolit von Phenacetin, in Kombination mit Salicylaten genommen, der Hauptschuldige in der Pathogenese der Analgetika-Nephropathie ist“, so der Pathologe. Die Muttersubstanz Phenacetin wurde daraufhin 1986 in Deutschland vom Markt genommen.
Doch zwanzig Jahre später im Jahr 2006, erkannte Mihatsch, dass er sich geirrt hat. Nicht Analgetika im Allgemeinen sind an der Nierenschädigung Schuld, sondern Phenacetin im Speziellen. Somit ist auch die mittlerweile in die Literatur eingegangene Bezeichnung „Analgetikanephropathie“ falsch. Prof. Mikatsch war so mutig, in die Offensive zu gehen, und hat zugegeben, sich geirrt zu haben. Paracetamol als aktiver Phenacetinmetabolit ist rehabilitiert. Obwohl Paracetamol nicht zu den klassichen NSAR gehört, hält sich seit Mihatschs Veröffentlichung hartnäckig der Mythos, dass NSAR eine Analgetikanephropathie auslösen können.
Es muss klar differenziert werden zwischen einem toxischen Nierenschaden mit anschließender Dialysepflicht und einer zusätzlichen Schädigung einer bereits geschädigten Niere. Bei einer vorgeschädigten Niere können NSAR sehr wohl den Schaden vergrößern. Vor einigen Jahren machte der Fall des Fußballspielers Ivan Klasnic von Werder Bremen von sich Reden. Ihm waren von seinen Mannschaftsärzten NSAR verordnet worden, was zum vollständigen Verlust seiner Nierenfunktion führte. Obwohl dem Mediziner die Nierenvorschädigung bekannt war, tätigte er diese Verordnung leichtfertig. Inzwischen hat Klasnic seine dritte Nierentransplantation hinter sich, nachdem die früheren Spenderorgane abgestoßen wurden.
Die Wirkung von NSAR beruht auf der Hemmung der schmerzleitenden Prostaglandine, aber auch des PGE2 im Tubulussystem der Nieren. Prostaglandine sind als große Transmitterfamilie u.a. für die Schmerzleitung und Entzündungsreaktionen, aber auch für den Magenschutz, die Geburt und die Regulation der Mikrozirkulation und der renalen Wasser- und Natriumausscheidung verantwortlich. Die Folge der Hemmung ist eine Verminderung des renalen Blutflusses, der Urinausscheidung und eine Steigerung des Blutdruckes. Eine gesunde Niere kann diese Effekte weitgehend kompensieren. Ist die Niere jedoch geschädigt, versagen die Kompensationsmechanismen und der Schaden vergrößert sich. Ein Nierenschaden, Natriummangel und eine Hypovolämie führt zu einer Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS). Periphere Analgetika unterdrücken diese Kompensation und mindern die glomeruläre Filtrationsrate (GFR).
Bei Risikopatienten kann die unbedachte und übermäßige Einnahme also tatsächlich die Niere schädigen. Forscher der Stanford University of Medicine wollten herausfinden, inwiefern das auch auf junge, gesunde Patienten zutrifft. Eine Studie von Nelson et al. untersuchte dazu die renalen Auswirkungen von NSAR auf 764.228 Soldaten der US-Armee. Die meisten Teilnehmer waren jünger als 35 Jahre und frei von Bluthochdruck, Diabetes und/oder Rhabdomyolyse. Somit bot diese Studie eine ungewöhnliche Gelegenheit, junge, gesunde, aktive Erwachsene zu evaluieren, die relativ hohe NSAR-Dosen erhielten. Durchschnittlich erhielten die Patienten 1,6 DDD (defined daily doses) pro Rezept.
Die am häufigsten verschriebenen NSAR-Präparate waren Ibuprofen und Naproxen. Diese machten zusammen 72,4 Prozent der verordneten Schmerzmittel aus. Bei den 804.471 Ibuprofen-Verordnungen wurden zu 78,3 Prozent 800-mg-Tabletten verschrieben; bei den 376.078 Naproxen-Rezepten verordneten Mediziner in 95,7 Prozent der Fälle Tabletten mit 500 mg oder mehr Wirkstoff.
Der Beobachtungszeitraum der Studie betrug insgesamt vier Jahre. In dieser Zeit wurden bei 0,3 Prozent bzw. 2.365 Soldaten eine akute Nierenschädigung und bei 0,2 Prozent bzw. 1.634 Soldaten eine chronische Nierenerkrankung festgestellt. Im Anschluss verglichen die Wissenschaftler die Daten der NSAR-Nutzer mit denen der Probanden, die keine Medikamente erhielten. Nach Angleichung aller Faktoren hatte die NSAR-Gruppe mit mehr als 7 DDD pro Monat ein um 20 Prozent erhöhtes Risiko für eine Nierenschädigung. Bei 100.000 Anwendern kam es zu einer zusätzlichen Fallzahl von 17,6 akuten und 30 chronischen Nierenfunktionsbeeinträchtigungen. Die NSAR-Gruppe mit 1 bis 7 DDD zeigte zwar eine geringe, aber keine signifikante Zunahme renaler Komplikationen.
Auch Genderaspekte spielten eine Rolle. Männer hatten ein mehr als doppelt so hohes Risiko für akute Nierenschäden und ein geringfügig erhöhtes Risiko für chronische Niereninsuffizienz als Frauen. Afroamerikaner zeigten im Vergleich zu weißen Teilnehmern ein mehr als doppelt so großes Risiko an einer chronischen Niereninsuffizienz zu erkranken.
Es ist allerdings unklar, inwieweit sich diese Ergebnisse auf die Zivilbevölkerung übertragen lassen. Die Arbeitsbelastung und körperliche Aktivität ist von Soldaten meist höher als von Zivilisten. Das begünstigt Dehydratationen und einen Flüssigkeitsvolumenmangel, welche die renale Belastung erhöht.
Die Studie zeigt, dass das Risiko für einen Nierenschaden durch NSAR bei Personen mit gesunden Nieren relativ gering ist (bei der Einnahme von 1 bis 7 DDD pro Monat). Allerdings zeigen die Studienergebnisse auch, dass bei unkritischer Einnahme von Schmerzmitteln durchaus ein erhöhtes Risiko für eine Nierenschädigung besteht. Deshalb sollte der Arzt folgendes berücksichtigen und seine Patienten informieren: Selbst wenn junge gesunde Menschen über einen längeren Zeitraum NSAR in hohen Dosen einnehmen (mehr als 7 DDD pro Monat), müssen sie unter Umständen mit renalen Problemen rechnen.
Artikel von Matthias Bastigkeit
Bildquelle: John Campbell, flickr