Wie ein erhöhter Blutdruck zustande kommt, wissen wir Ärzte immer noch nicht genau. Wie man richtig misst, auch nicht. Messen wir zu hoch? Zu niedrig? Zur richtigen Zeit? Den Einzelwert halte ich sowieso für nicht aussagekräftig. Ich messe ihn trotzdem – aus gutem Grund.
Als Hausärztin versuche ich für meine Patienten immer auf dem neuesten Stand zu bleiben. Das ist aber manchmal gar nicht so einfach: Für manche Krankheitsbilder gibt es selbst heute noch keine wirklich aussagekräftigen und evidenzbasierten S3-Leitlinien. Und das obwohl sie gar nicht so selten sind: Ich denke da beispielsweise an Epicondylitis, den „Tennisellenbogen“.
Es gibt aber auch Krankheitsbilder, bei denen man sich vor lauter neuen Studien und immer wieder neuen Empfehlungen, die sich mitunter widersprechen, kaum orientieren kann. Ein gutes Beispiel dafür ist der Bluthochdruck.
Einerseits müssen wir eigentlich zugeben, dass wir auch 2019 immernoch nicht so wirklich wissen, woher der erhöhte Blutdruck kommt. Auch wenn ein Artikel im Ärzteblatt vor kurzem suggerierte, dass wir Bluthochdruck inzwischen wirklich erklären könnten. Bis auf wenige Patienten sind fast alle Hypertoniker „essenzielle“ Hypertoniker, was heißt, dass wir zwar Risikofaktoren kennen, z.B. genetische Faktoren, Adipositas, Stress, exzessive Salzzufuhr und Bewegungsmangel, aber nicht mit letzter Sicherheit sagen können, welcher Patient jetzt wirklich einen Hypertonus entwickelt und wer nicht.
In Anbetracht der zahlreichen durch Bluthochdruck ausgelösten Folgeerkrankungen wie Schlaganfälle oder koronare Herzkrankheiten – und ausnahmsweise sind sich da wirklich mal alle einig – ist es extrem wichtig, die Patienten zu identifizieren, die eine Therapie benötigen. Gerade für uns Hausärzten, weil wir die Patienten am häufigsten sehen und am kontinuierlichsten betreuen.
Und da geht der Ärger schon los: Ab welchem Blutdruck muss ich denn meinen Patienten behandeln? Seit der SPRINT-Studie wird darüber mächtig gestritten. Die einen fordern eine Therapie ab 120 mmHg, die anderen weiterhin erst ab 140 mmHg. Schon mit der SPRINT-Studie wurde ein Thema angerissen, das jetzt weiter befeuert wird: Im JAMA Intern. Medicine gibt es jetzt ein Review, der fordert, dass die persönliche Blutdruckmessung besser durch eine automatisierte oszillatorische Blutdruckmessung durch den Patienten selbst ersetzt werden soll.
Diese Form der Messung reduziere den „Weißkittelhochdruck“, der zu falsch hohen Werten und damit zu unnötigen Therapien führt. Interessant, ich hatte auch schon gelesen, dass wir in der Praxis eher einen zu niedrigen Druck messen und deswegen auch viele Hypertoniker übersehen.
Langsam wird es verwirrend. Messen wir also jetzt zu hoch? Zu niedrig? Und wann sollten wir messen? In einer anderen Studie wird wiederum gesagt, dass ein viel wichtigerer Punkt, um das kardiovaskuläre Risiko zu bestimmen, der abendlich/nächtliche Blutdruck sei.
Mir raucht der Kopf. Wenn also die automatische Messung besser mit dem Wach-Blutdruck korreliert, aber der Schlaf-Blutdruck entscheidender ist – wie wichtig ist dann der Weißkittel-Effekt? Soll ich überhaupt noch messen?
Ich muss gestehen, dass ich in der Praxis schon jetzt oft zwiegespalten bin: Einerseits sehe ich die begrenzte Aussagekraft der Einzelmessung in der Praxis, dazu kommt oft noch der Weißkittel-Effekt. Okay, den könnte ich jetzt mit der oszillatorischen Patientenmessung vielleicht verbessern.
Gleichzeitig müsste ich aber, um wirklich gute Ergebnisse zu bekommen, den Praxisalltag extrem verlangsamen, weil ich ja jedes Mal den Patienten erst mehrere Minuten ruhig sitzen lassen müsste, bevor die Messung beginnen kann. Selbst wenn keine MFA oder kein Arzt dabei ist, blockiert mir diese Situation ein Sprechzimmer, was ich gerade in der Infektsaison überhaupt nicht brauchen kann. Mal ganz abgesehen davon, dass man dem Patient erstmal erklären muss, wie er mit dem Gerät überhaupt richtig misst. Und das bedeutet je nach Patient, technischem Verständnis und Gedächtnis, dass man das ziemlich lange und auch noch mehr als einmal machen muss.
Und was mache ich mit den Patienten, die nicht selbst messen können? Weil sie zum Beispiel eine beginnende Demenz haben. Oder weil es körperliche Probleme gibt (z.B. Sehstörungen). Solche Leute werden gerne aus diesen Studien ausgeschlossen. Aber natürlich haben wir solche Patienten in der Praxis. Haben wir dann demnächst zwei Grenzwerte? Einen für die Selbst- und einen für die Fremdmessung? Ist das wirklich praktikabel?
Ein für mich viel größeres Problem ist aber ein anderes: Ein Einzelwert bleibt ein Einzelwert. Ich mache es schon jetzt so, dass ich die Einzelmessung allenfalls als Einstieg sehe. Im Anschluss versuche ich dann, wenn es notwendig scheint, diesen Einstiegswert mit einer Langzeit-Blutdruck-Messung über 24 Stunden zu objektivieren. Diese Langzeit-Messungen sind bei den Patienten zwar extrem unbeliebt. Aber gerade wenn es um die Entscheidung geht, ob mit einer Therapie begonnen wird, oder auch bei Therapieanpassungen, ist mir der 24-Stunden-Blutdruck immer lieber als die Momentaufnahme in der Praxis.
Auch die Eigenmessung durch den Patienten (am besten 3–5 x täglich) ist eine wichtige Methode, die ich gern nutze. Aber auch hier fehlen mir dann die Schlaf-Blutdruck-Messungen und damit ist ggf. eine Aussage bezüglich möglicher Ursachen einer Hypertonie wie eine unbehandelte Schlaf-Apnoe schwierig. Deswegen ist für mich immernoch die 24-h-Messung Standard.
Hinzu kommt noch ein Aspekt, der bei diesen Diskussionen oft vergessen wird, aber meiner Meinung nach doch auch in der hausärztlichen Praxis eine Rolle spielt. Nämlich die Psyche bzw. die Erwartungshaltung des Patienten: Die Patienten möchten gerne einen persönlichen Kontakt zu ihrem Arzt. Viele Patienten verstehen, dass ich auf Händeschütteln möglichst verzichte, um Keimen keine Ausbreitungsmöglichkeit zu geben und mich stattdessen lieber verbeuge, winke oder irgendwie sonst versuche, einen persönlichen Zugang ohne Hand-zu-Hand-Kontakt zu bekommen.
Aber speziell bei den älteren Patienten ist ein Umdenken schwierig. Für sie ist auch die Blutdruckmessung oft ein Ausdruck von Zuwendung, den sie auch durchaus erfragen. Ich höre gar nicht selten am Ende des Gesprächs die Frage: „Könnten Sie mir noch einmal den Blutdruck messen, bitte?“
Selbst bei Patienten, mit denen wir schon x-mal besprochen haben, dass diese Einzelmessungen keine größere Aussagekraft haben und nicht das Therapieregime bestimmen. Es geht gar nicht um exakte Messung, sondern um Zuwendung.
Wir müssen auch emotionale Bedürfnisse beachten
Das kann in der Praxis ein Problem werden: Bei allen Erklärungsversuchen, warum die Messung, bei der der Patient alleine die Maschine bedient, bessere Daten liefert – der Mensch besteht nicht nur aus erhobenen körperlichen Befunden. Er ist vor allem ein Lebewesen mit emotionalen Bedürfnissen. Und über diese Bedürfnisse müssen wir auch nachdenken. Sonst laufen wir Gefahr, dass wir zwar tolle exakte Befunde haben, aber der Patient sich bei uns emotional nicht wohl fühlt.
Schlimmstenfalls kehrt dieser Patient dann der „Schulmedizin“ den Rücken und geht lieber zu jemandem, bei dem er sich emotional besser aufgehoben fühlt. Und zwar egal, ob der evidenzbasiert und wissenschaftlich arbeitet oder ein Scharlatan ist. Wir dürfen, so wichtig unser wissenschaftlicher Anspruch auch ist, diesen Aspekt der Arzt-Patienten-Beziehung nicht vernachlässigen. Das ist meiner Meinung nach aber in den letzten Jahren geschehen.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich sehe diese Blutdruckmessung nicht als einzige Art, eine emotionale Beziehung zum Patienten aufzubauen, aber für viele Patienten ist es ein elementarer Bestandteil des Arztbesuchs. Und diese Erwartung wird nicht über Nacht verschwinden. Deswegen sollten wir diesen Prozess aktiv gestalten und uns überlegen, wo wir welche Verbindung schaffen können und nicht nur auf den technischen Fortschritt und medizinische Exaktheit in der Momentaufnahme bauen.
Denn gerade im Bereich Bluthochdruck, wo die langjährige Therapie ohne für den Patienten sichtbare Erfolge eine große Rolle spielt (man weiß ja nicht, ob man sonst einen Schlaganfall bekommen hätte), ist nämlich die emotionale Bindung extrem wichtig.
Deswegen fällt es mir auch momentan sehr schwer, ein zufriedenstellendes Fazit aus der Blutdruckstudie zur Selbstmessung abzuleiten. Ich sehe den wissenschaftlich-technischen Vorteil, aber in der praktischen Umsetzung existieren für mich noch so einige Fragen und Probleme. Ich bin aber für Erfahrungsberichte anderer Kollegen dankbar, die das schon ausprobiert haben. Wer von euch macht das schon? Und wie läuft es?
Bildquelle: Annie Spratt, unsplash