Über 60.000 Kinder werden in Deutschland jedes Jahr als Frühchen geboren. Was können Ärzte tun, um eine drohende Frühgeburt zu verhindern? Eine neue Leitlinie liefert teils überraschende Erkenntnisse: Die über Jahrzehnte proklamierte Bettruhe wird nicht mehr empfohlen.
Frühchen sind die größte Patientengruppe im Kindesalter: 66.851 Babys kamen im Jahr 2016 vor der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt. Die perinatale Morbidität und Mortalität ist unter Frühchen wesentlich erhöht. Bei Kindern, die extrem früh, also vor der 28. SSW geboren werden, ist die Mortalität 300 Mal so hoch wie die Mortalität reifgeborener Kinder.
Mit der neue Leitlinie zur Prävention und Therapie der Frühgeburt der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG) soll die prä- und postnatale Versorgung bei Frühgeburten deutlich verbessert werden. Was ändert sich für behandelnde Ärzte konkret? Und wie lassen sich Frühgeburten nach neuesten Erkenntnissen am besten vermeiden?
Die Frühgeburtenrate in Deutschland liegt seit 2008 stabil bei etwa 8 %. Sie nimmt im europaweiten Vergleich eine Position auf den hinteren Plätzen ein. Am niedrigsten ist die Frühgeburtenrate in Island mit 5,3 %, am höchsten auf Zypern mit 10,4 %.
Überleben frühgeborene Kinder, sind sie oftmals schwer durch zerebrale Schäden, respiratorische Probleme, Visus- und Hörverluste beeinträchtigt. Neben dem Leid für die Betroffenen und deren Familien entstehen hohe Kosten für das Gesundheitssystem. Die Kosten für die neonatologische Versorgung eines extrem frühgeborenen Kindes werden derzeit auf mindestens 100.000 Euro geschätzt. Die Folgekosten einer eventuellen lebenslangen Behinderung übersteigen diesen Betrag um ein Vielfaches.
Die Ätiologie der Frühgeburt ist multifaktoriell. Die Leitlinie nennt etwa bakteriell induzierte Inflammationen, Überdehnung des Myometriums, vaskuläre Erkrankungen und deziduale Blutungen als Riskofaktoren. Weiterhin scheint Progesteronentzug, eine gestörte materno-fetale Immuntoleranz oder genetische Faktoren eine Rolle zu spielen. Schon lange assoziiert man auch maternalen Stress mit Frühgeburtlichkeit.
In der Schwangerenvorsorge ist es daher wichtig, Risikofaktoren frühzeitig zu erfassen und die Untersuchungsintervalle daraufhin abzustimmen. Als bekannte Trigger für Frühgeburtlichkeit gelten: vorausgegangene Frühgeburten oder Konisationen, Schwangerschaftsintervalle unter 12 Monaten oder mütterliches Alter unter 18 Jahren. Ungünstige sozioökonomische Lebensbedingungen der Schwangeren und Nikotinabusus können die Wahrscheinlichkeit einer Frühgeburt erhöhen.
Krankheitsbilder wie eine bakterielle Vaginose, eine asymptomatische Bakteriurie oder eine Parodontitis gelten als weitere Risikofaktoren. Auch geht man davon aus, dass eine Anämie der Mutter das Frühgeburtlichkeitsrisiko steigern kann. Mehrlingsschwangerschaften sind per se für eine Frühgeburtlichkeit prädestiniert.
Verkürzt sich die Zervixlänge während des 2. Trimenon, ist das mit einem späteren Auftreten einer spontanen Frühgeburt assoziiert. Das größte Risiko für eine spätere Frühgeburt haben Frauen mit einer frühen und ausgeprägten Zervixverkürzung.
Laut Leitlinie ist eine exakte sonographische Zervixlängenbestimmung der digitalen Untersuchung überlegen, insofern bei leerer Harnblase und ohne Druck die Entfernung zwischen innerem und äußerem Muttermund in einem ausreichenden Bildausschnitt dargestellt wird. Außerdem sollte das Untersuchungsintervall 3–5 Minuten andauern und es sollten mindestens drei Messungen getätigt werden, wobei die kürzeste Zervixlänge das weitere Vorgehen festlegt.
In der Leitlinie wurden folgende Normwerte für eine Einlingsschwangerschaft festgelegt: Die Zervixlänge sollte vor der 22. SSW > 40mm sein, zwischen der 22. und 32. SSW bei 40 mm und nach der 32. SSW etwa bei 35 mm liegen. Wird die Strecke unterhalb der 34. SSW vaginalsonographisch mit 25 mm oder kleiner gemessen, gilt sie als verkürzt.
Sonographische Zervixlängenbestimmungen werden bei Risikofaktoren oder bei symptomatischen Schwangeren in der Leitlinie empfohlen. Bei einer Patientin, die bereits eine Frühgeburt hatte, sollte die Vaginalsonographie ab der 16. SSW erfolgen, auch wenn keine Symptome vorliegen.
Biomarker aus dem Zervikovaginalsekret, wie etwa das Fibronektin, können bei einer symptomatischen Schwangeren und einer Zervixlänge zwischen 15 und 30 mm einen negativen Vorhersagewert über die Frühgeburtswahrscheinlichkeit der nächsten sieben Tage abgeben.
Die Leitlinie teilt ihr Management in drei Präventionsstufen ein, wobei an dieser Stelle ausschließlich die Schwangerenvorsorge bei Einlingsschwangerschaften im niedergelassenen Sektor behandelt wird. Das spezielle Vorgehen bei Mehrlingsschwangerschaften ist in der Leitlinie im Detail nachzulesen.
Das sind die wichtigsten Empfehlungen für die primäre Prävention, die sich aus der Leitlinie ergeben:
Die relevantesten Punkte der Leitlinie für die sekundäre Prävention im Überblick:
Die Empfehlungen für die tertiäre Prävention dürften so manchen Gynäkologen überraschen:
Spätestens an dieser Stelle endet die Schwangerenvorsorge im niedergelassenen Bereich und die Patientin muss in ein Perinatalzentrum eingewiesen werden.
Strikte Bettruhe ist out und kann sogar kontraproduktiv sein. Die Empfehlung war bis vor Kurzem noch Standard, um eine drohende Frühgeburt zu verhindern. Die neue Leitlinie verdeutlicht, dass körperliche Schonung nicht mehr so streng gesehen wird und schlägt eine individuell abgestimmte Vorgehensweise vor. Man würde eine Patientin zwar arbeitsunfähig schreiben, aber keine strenge Bettruhe mehr empfehlen.
Obwohl Progesteron laut Veröffentlichungen in der Fachliteratur zwar schon länger off-label eingesetzt wird, ist die Befürwortung der Progesteron-Gabe mit der Leitlinie nun offiziell. So kann der Einsatz auch den Patientinnen gegenüber besser vertreten werden.
Der Einsatz eines Pessars bei Zervixverkürzungen erlebt durch die Leitlinie wieder eine Aufwertung. Auch die Bedeutung der Cerclage wird mit der konsensbasierten Empfehlung der Leitlinie wieder hervorgehoben.
Quelle: Leitlinienprogramm deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (OEGGG), Österreichische Gesellschaft für Gynäkologie (OEGGG), Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG); Prävention und Therapie der Frühgeburt. Unter diesem Link in voller Länge nachzulesen.
Artikel von Petra Brandt
Bildquelle: nappy, pexels