Während ihr im Kopf die wichtigsten Punkte durchgeht, bin ich mir sicher, dass ihr eine Sache ganz bestimmt vergessen werdet. In meinem Beitrag erkläre ich, welche ich meine.
„Du kannst niemals alles wissen, und ein Teil von dem, was du weißt, ist immer falsch. Vielleicht sogar der wichtigste Teil. Es braucht Weisheit, das zu erkennen. Es braucht Mut, um trotzdem weiterzumachen.“Lan Mandragoran, „Das Rad der Zeit“
Ich mag dieses Zitat sehr, weil es für mich einen sehr wichtigen Aspekt des Arzt-Seins anspricht, der oft vergessen wird, wenn es um die Eigenschaften eines Arztes geht. Alle sind sich einig: Ein Arzt muss viel wissen und empathisch sein. Das sehe ich auch so. Eine weitere sehr wichtige Eigenschaft, die aber leider nie unterrichtet wird: Aushalten können.
Ein Arzt muss eine Menge aushalten können. Man sieht manchmal Dinge, die man eigentlich am liebsten nie gesehen hätte. Davon können sicherlich gerade die Kollegen aus den Notarztwagen und den Schockräumen viel erzählen. Aber auch in den anderen Fachrichtungen kann man Dinge zu Gesicht bekommen, die einen noch eine gewisse Zeit verfolgen. Sei es, weil die Verletzung so extrem war. Sei es, weil es sich um ein Kind handelt. Sei es, weil man sich selbst im Patienten sieht oder jemanden, der einem nahe steht. Manche dieser Bilder brauchen sehr viel Zeit, um wieder zu verblassen.
Selbst wenn es keine heftigen Bilder oder Erinnerungen sind – die Schicksale meiner Patienten gehen mir oft nahe. Vor allem, wenn es junge Patienten oder Kinder sind, die plötzlich eine furchtbare Diagnose erhalten. Der junge Familienvater mit der bösartigen Erkrankung, die wahrscheinlich dafür sorgen wird, dass er den Schulabschluss seines Ältesten nicht mehr erlebt. Und wenn er Pech hat, nicht einmal die Einschulung des Jüngsten. Der tragische Verkehrsunfall einer jungen Dame, die plötzlich doch nicht die Rundreise nach dem Abi macht, sondern plötzlich mit lebenslangen Lähmungen rechnen muss. All das bleibt auch nicht immer an der Praxistür, sondern man nimmt es mit nach Hause.
Auch das emotionale Leid der Patienten muss ausgehalten werden. Patienten leiden unter ihren Krankheiten. Sie weinen, verzweifeln, sind wütend auf Gott und die Welt, das Schicksal – und nicht zuletzt auf den Arzt. Nicht persönlich, sondern als Stellvertreter dafür, was alles nicht so läuft, wie es soll. Denn eigentlich WILL der Patient ja gar nicht beim Arzt sein, sondern gesund. Ich erinnere mich noch, wie ein Angehöriger meine Mentorin im PJ fürchterlich angebrüllt hat, weil seine Mutter eine unheilbare Krebserkrankung hatte. Meine Mentorin blieb die ganze Zeit völlig ruhig und zugewandt, während ich mich die ganze Zeit fragte, warum sie sich nicht gegen seine Beschimpfungen wehrte. Nachdem er gegangen war, meinte sie nur zu mir: „Der meinte gar nicht mich. Das ist wie beim Gewitter: Der Blitz schlägt am höchsten Punkt ein. Und das war halt ich. Er musste sich nur entladen.“ Ich fand diese Einstellung toll und habe auch versucht, sie immer zu übernehmen, auch wenn es manchmal schwer fällt.
Der Punkt, der in dem oben genannten Zitat angesprochen wird, ist das Aushalten der eigenen Unsicherheit. Gerade im hausärztlichen Bereich (z.B. bei Hausbesuchen) ist es oft so, dass wir die berühmte „Barfuß“-Medizin betreiben. Also nicht viel mehr zur Verfügung haben als unsere eigenen Sinne, das Stethoskop, ein kleines Lämpchen und vielleicht noch ein Puls-Oxy. In der Praxis selbst kommt noch ein Ultraschallgerät und je nach Uhrzeit ein Labor dazu, dessen Ergebnis aber erst viele Stunden später eintrifft – oder sogar erst am nächsten Tag. Mehr hab ich nicht an technischen Möglichkeiten. Punkt. Ich muss also versuchen, mit diesen beschränkten Mitteln möglichst schnell zu einer möglichst guten Entscheidung zu kommen bezüglich der Diagnose und weiteren Therapie. Das ist in vielen Fällen recht gut möglich (z.B. bei einer einfachen Erkältung), in anderen sehr schwierig (z.B. beim „unklaren Bauch“). Und das nicht nur einmal, sondern je nach Patientenaufkommen oft auch 30-60 Mal an einem Vormittag. Das schlaucht, selbst wenn die meisten Entscheidungen keine großen „Auf-Leben-und-Tod“ Entscheidungen sind. Es sind einfach viele Entscheidungen, und davon eben auch noch viele mit einem hohen Unsicherheitsfaktor.
Klassisches Beispiel: Es ist Freitag morgen 11 Uhr, es kommt ein Patient mit Durchfall, leicht erhöhter Temperatur und in der Abdomen-Palpation einem leichten Druckschmerz im linken Unterbauch. Der Fahrer vom Labor hat das Blut schon vor anderthalb Stunden geholt, eine laborchemische Diagnostik ist also frühestens Montag möglich. Das hat mich gerade in der Anfangszeit fürchterlich gestresst, dass man ab 9 Uhr 30 kein Labor mehr zur Verfügung hat. Für meinen Patienten muss ich aber jetzt ohne Labor entscheiden. Welche Diagnose ist es? Es KANN eine einfache Gastroenteritis sein. Es KANN eine beginnende Sigmadivertikulitis sein. Muss ich ein Antibiotikum geben? Das sollen wir aber ja eigentlich nicht mehr so oft und es wäre bei der (gewöhnlich viralen) Gastroenteritis auch völliger Blödsinn. Bei der Sigmadivertikulitis ist die Antibiose aber je nach Schweregrad durchaus sinnvoll. Man kann versuchen, in dieser Situation sonographisch eine Antwort zu finden (was Zeit kostet und schwierig ist, wenn gleichzeitig noch 20 andere Patienten warten). Manchmal ist man dann schlauer, manchmal auch nicht (z.B. wenn viel Luft im Bauch ist). Also doch lieber einweisen wegen des nahenden Wochenendes?
Man kann meiner Meinung nach in solchen Situationen nur versuchen, nach bestem Wissen und Gewissen diesen einzelnen Fall zu entscheiden. Allgemeine Leitlinien helfen sicherlich bei den Kriterien, aber letztlich bin ICH als behandelnder Arzt derjenige, der mit dem Patienten entscheiden muss. Wobei es auch Patienten gibt, die die Entscheidung gern komplett an den Arzt abgeben („Sie wissen das doch am besten – Sie sind ja der Arzt“). Ich kann aber leider nicht in die Zukunft sehen. Nur immer wieder versuchen, das Richtige zu tun. Und dann die Unsicherheit aushalten, ob es wirklich das Richtige war. Und ggf. auch damit leben, wenn es mal nicht das Richtige war. Und ich glaube nicht, dass man über Jahre und Jahrzehnte hinweg ärztlich tätig sein kann, ohne (rückblickend) mal falsch entschieden zu haben. Und dann muss ich als Arzt aushalten, ggf. auch aus Versehen meinem Patienten Schaden zugefügt zu haben. Nicht schuldhaft, aber das ändert am Schicksal des Patienten nichts.
Ein Beispiel dafür: Ein Kollege hatte eine Hyposensibilisierung empfohlen, die völlig korrekt indiziert war und durchgeführt wurde, wobei es aber doch zu einem allergischen Schock kam, mit anschließender Reanimation und einem bleibenden Hirnschaden. Das ist furchtbar für die Patientin, aber auch für den Arzt, der sich dann als Hausarzt oft jahrelang damit auseinandersetzen muss, dass er dem Patienten zu etwas geraten hat, was ihm geschadet hat. Und im Gegensatz zum Krankenhaus sieht man als Hausarzt diese Patienten immer und immer wieder, weil sie ja wissen, dass man das Beste für sie wollte und deswegen auch keinen Grund haben, den Arzt zu wechseln. Dieses Vertrauen ehrt einen natürlich auch, aber trotzdem wird man immer wieder mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert.
Wir haben beispielsweise einen Patienten, bei dem ich aufgrund des sonographischen Befundes geschworen hätte, dass er ein beginnendes Pankreaskarzinom hat. Deswegen hab ich zur sofortigen stationären Aufnahme mit OP geraten, die dann (nach erneuter Sonographie und CT) auch durchgeführt wurde. Aufgrund von Komplikationen musste aber mehrfach nachoperiert werden mit dem Ergebnis, dass der Patient jetzt einen teils sehr schwierig einzustellenden insulinpflichtigen Diabetes mellitus hat. Klar habe ich diese Entscheidung nicht allein getroffen. Aber es war AUCH meine Entscheidung und ich habe den initialen Anlass gegeben.
Und auch „richtige“ Fehler können passieren – und auch damit muss man leben können. Ich bin in dieser Hinsicht froh, dass ich in einer Gemeinschaftspraxis arbeite und mein Chef zumindest noch ab und an unser Tagesprotokoll mitliest, weil ich damit das Gefühl einer gewissen „Zweitmeinung“ bzw. Kontrolle habe. Und dass ich auch weiß, dass ich jederzeit jemanden fragen kann, wenn ich wirklich einmal schnell ein zweites Urteil benötige.
Zu den medizinischen Entscheidungen kommen noch die anderen Entscheidungen: Personelle Entscheidungen bei den medizinischen Fachangestellten, Entscheidungen über die Technik, die Ausstattung, Anschaffungen, Codieren, Abrechnung, EDV-Probleme und so weiter. Jede einzelne Entscheidung ist vielleicht nicht riesengroß, aber in der Masse entscheidend – und auch da gibt es oft genug nicht alle nötigen Informationen, um mit sicherem Gefühl das Richtige zu tun.
Klar – auch in anderen Berufen muss viel entschieden werden. Und manche Leute möchten ja auch gerne noch mehr entscheiden. So wie unser Bundesgesundheitsminister, der am liebsten ohne den GBA entscheiden möchte, welche Kosten die Krankenversicherungen zu übernehmen haben. Ich hoffe für ihn, dass für den Fall, dass er sich durchsetzt, er sich nie damit auseinandersetzen muss, ein potentiell schädliches Verfahren zugelassen zu haben. Das ist nämlich die Kehrseite der Medaille. Wenn sich die Entscheidung von vielen Schultern auf nur wenige Schultern konzentriert, kriegen diese Schultern auch mehr Last. Und für den möglichen Schaden (oder gar Tod) von Menschen verantwortlich zu sein, ist sicher auch für einen Gesundheitsminister grauenhaft.
Auch im Alltag fordert dieses ständige Entscheiden und Aushalten seinen Tribut. Gerade an Tagen, wo man wirklich im Dauerfeuer Entscheidungen treffen muss, fühlt man sich schon nach dem Vormittag völlig platt und ausgelaugt. Und als Mutter von drei Kindern ist es mit dem Entscheiden natürlich nicht vorbei, wenn ich die Praxis verlasse. Glücklicherweise sind aber nachmittags dann die Entscheidungen nicht so schwerwiegend. Andererseits muss man sich auch da manchmal auf jede Menge (kindliches) Leid gefasst machen, wenn man eine Entscheidung trifft. Und zwar nicht nur bei falschen, sondern auch bei unbeliebten (z.B. Aufräumen). Und dieses Leid will auch ernst genommen werden – auch wenn es vielleicht „objektiv betrachtet“ nicht so groß ist wie das vieler meiner Patienten. Sonst kann einem das passieren, was ich mal von einem Kollegen gehört habe: „Papa, warum kümmerst du dich eigentlich nur um andere, wenn es ihnen schlecht geht?“
Bei mir ist es dann manchmal so, dass ich abends mit meinem Mann am Tisch sitze und auf seine Frage „Was möchtest du heute Abend machen?“ nur antworte „Mir egal, Hauptsache ich muss nicht entscheiden.“ Am Anfang hat meinen Mann das sehr irritiert, inzwischen hat er sich dran gewöhnt. Deswegen möchte ich an dieser Stelle auch noch ein Dankeschön loswerden an die ganzen Familien, Freunde, Bekannten, die uns Ärzte immer wieder „aushalten“. Wenn wir schweigsam werden, weil wir nicht mehr wissen, was wir zu all dem Leid sagen sollen. Wenn wir gereizt sind, weil wir unseren Patienten nicht so helfen können, wie wir das wollen. Weil wir unsere ganze Energie in die Arbeit stecken – und dann manchmal nicht mehr so viel da ist, wie man seinen Lieben gern schenken würde. Danke für euch alle!
Meines Erachtens helfen manchmal auch „Entscheidungspausen“. Ich genieße es, wenn ich den Nachmittag mal frei habe und meinen „Entscheidungs-Akku“ wieder aufladen kann. Manchmal, indem ich einfach irgendwas mache, wo ich definitiv nichts Wichtiges entscheiden muss, wie z.B. Garten umgraben. Das mag banal klingen, aber schützt manchmal meine geistige Gesundheit und Widerstandskraft.
Wichtig ist für mich auch das Reden mit Kollegen. Sei es in offiziellen Balint-Gruppen, sei es im persönlichen Austausch. Oft hilft es einfach, mit jemandem zu sprechen, der diese krasse Verantwortung versteht. Der vielleicht auch schon mal abends vor dem Einschlafen nochmal gegrübelt hat, ob man den Patienten Müller nicht doch besser eingewiesen hätte, anstatt ihn am nächsten Tag zur Kontrolle seiner Bauchschmerzen einzubestellen. Der einem einfach nochmal das Gefühl gibt, dass diese Belastung gesehen wird. Und nicht sofort schimpft, dass „man das doch selbst so gewollt hat“ und „man bei dem Gehalt nicht motzen darf“.
Es geht nicht ums Beschweren. Es geht einfach darum, mal Dampf abzulassen, damit man nicht an dem Druck kaputt geht. Die ganzen Entscheidungen, die man im wahrsten Sinne des Wortes (er)tragen und aushalten muss, auch mal zumindest kurzzeitig ablegen zu können, ohne dafür direkt be- oder verurteilt zu werden. Und ohne in den Substanzgebrauch abzugleiten. Denn wie oft beginnen solche Suchterkrankungen damit, dass jemand nicht mehr loslassen konnte und es dann mit Alkohol oder anderen Substanzen versucht. Ich kenne sehr viele Kollegen, die durchaus gerade in der Anfangszeit mir gesagt haben, dass sie schon mal „eine Flasche Wein“ abends leeren, um schlafen zu können. Ein schmaler Grat. Ich kann dieses Gefühl verstehen, „schlafen zu müssen“, weil man weiß, dass am nächsten Tag der Druck wieder losgeht und müde noch schwieriger zu ertragen ist. Aber ich persönlich glaube, dass es da andere Wege geben muss, diesen Druck loszuwerden. Ein Gespräch mit einer Vertrauensperson. Ein Spaziergang mit dem Haustier. Meditation. Sport. Und vielleicht sollten wir als Ärzte überlegen, diesen Druck und seine Kompensationsmöglichkeiten schon im Studium anzusprechen und Möglichkeiten zu integrieren, damit fertig zu werden. Bevor der Druck in voller Wucht zuschlägt – und uns wie schon in einem früheren Beitrag erwähnt bis zu 40 % der Jung-Ärzte nimmt.
Denn was bleibt als Lösung? Nur der schon im Eingangszitat erwähnte Mut. Der Mut, jeden Tag wieder aufs Neue anzugehen. Sich wieder ins Getümmel der Praxis oder Klinik zu begeben und den Tag damit zu verbringen, das Leid nach Kräften zu lindern. Gemeinsam mit und für den Patienten.
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