Ein Arzt muss damit leben können, am Ende seiner Karriere einen eigenen kleinen Friedhof zu hinterlassen. So lautete der Hinweis eines Professors im Medizinstudium. Eine drastische Formulierung, aber ein wichtiges Thema. Was ich seither über den Umgang mit Fehlern gelernt habe.
Ich erinnere mich noch an eine meiner ersten Vorlesungen. Der Professor kam rein mit den Worten: „Wenn Sie nicht damit leben können, dass Sie am Ende Ihres beruflichen Daseins durch direkte oder indirekte Fehler einen eigenen kleinen Friedhof voll haben, sind Sie hier falsch.“
Über diesen Satz mussten wir damals alle ziemlich schlucken, aber ich habe niemanden gesehen, der den Raum verlassen hat. Trotzdem gebe ich zu, dass er mich über all die Jahre begleitet hat und mir immer wieder durch den Kopf geht.
Kein Mensch möchte Fehler machen, aber alle Menschen machen sie. Immer und immer wieder. Und so sehr man sich auch als mehr oder weniger unfehlbarer Halbgott in Weiß fühlen möchte, so sehr zeigt einem gerade das ärztliche Dasein, wie oft Fehler passieren und wie heftig die Konsequenzen sein können.
Beginnen wir mit einer (sehr groben) Fehlereinteilung. Das ist keine juristische Bewertung von Fehlern. Wer sich mit der juristischen Seite beschäftigen will, kann dies z.B. im Ärzteblatt tun, dort gibt es einen Bericht über die Arbeit der Gutachterkommission der Ärzteschaft:
Kann-passieren-Fehler: Natürlich sollte man bei jedem Patienten mindestens einmal im Jahr den TSH-Wert kontrollieren, wenn eine Schilddrüsen-Erkrankung bekannt ist. Wenn dies aber bei einem klinisch unauffälligen Patienten erst nach 14 Monaten statt nach 12 Monaten passiert, hat das gewöhnlich keine schwerwiegende Konsequenz. Trotzdem versucht man, diese Fehler zu vermeiden.
Sollte-nicht-passieren-Fehler: Darunter fallen die Fehler, die einem ärztlich zwar ins Auge springen sollten, es aber im Alltag eben leider doch manchmal nicht tun. Die Folgen für den Patienten sind nicht lebensbedrohlich, führen aber zu unnötigen Verzögerungen im Heilungsverlauf, hier geht es beispielsweise um Medikamentenverwechslungen oder ums Übersehen von klinisch relevanten Medikamenteninteraktionen.
Darf-nicht-passieren-Fehler: Selbst der Laie erkennt, dass da was derbe schief gelaufen ist. Oder der Patient hat einen wirklich bleibenden Schaden davongetragen bzw. der Heilungsverlauf wurde ganz massiv verzögert. Ein Beispiel wäre eine offensichtlich dislozierte Fraktur, die nicht erkannt wurde.
Die letzten beiden Kategorien sind die Fehler, die einem deutlich näher gehen und bei denen ich schon versuche, peinlich genau darauf zu achten, dass sie einem nicht unterlaufen – noch mehr als bei den Kann-passieren-Fehlern. Auch unsere medizinischen Fachangestellten ermutigen wir immer wieder, uns bei Dingen, die ihnen komisch vorkommen, nochmal auf das Problem hinzuweisen. Dieses System ist nicht perfekt, aber vier Augen sehen bekanntermaßen mehr als zwei.
Habe ich Fehler der letzten Kategorie schon mal begangen? Ich hoffe nicht, ich hatte auch (schnell auf Holz klopfen) bislang noch kein entsprechendes Gerichtsverfahren. Aber sicher sein kann ich mir nicht. Und das ist leider das Fatale an Fehlern: Sie fallen oft erst dann auf, wenn es zu spät ist.
Es gibt noch eine Kategorie, die ich erwähnen möchte, weil sie zumindest bei mir oft auch für Kopfzerbrechen sorgt: Sogenannte Pseudofehler. Ich habe diesen Begriff zum ersten Mal vor ein paar Jahren in der Zeitschrift für Allgemeinmedizin gelesen. Ich habe damals folgende Definition für mich mitgenommen: Ein Pseudofehler besteht dann, wenn eigentlich alles medizinisch Indizierte getan wurde und sich trotzdem im Nachhinein zeigt, dass die klinische Einschätzung falsch war.
Klassisches Beispiel ist ein Patient mit Brustschmerzen. Es gibt diverse Score-Systeme, z.B. den Marburger Herz-Score, um abzuschätzen, ob es sich bei diesen Brustschmerzen eher um kardiale oder um anderweitige, also klassischerweise z.B. orthopädische Brustwandschmerzen handelt. Erreicht der Patient dabei einen gewissen Score nicht, wird in den Leitlinien empfohlen, von einer weiteren kardialen Diagnostik abzusehen, um unnötige Untersuchungen im Sinne von falsch positiven Befunden zu vermeiden. Andererseits kennt vermutlich fast jeder Arzt einen Patienten, wo wirklich alles gegen die Diagnose sprach, die sich dann am Ende als richtig herausgestellt hat. „Der letzte Arzt ist immer der schlaueste.“
Diese Probleme ergeben sich in allen Bereichen. Internistisch ist neben dem oben erwähnten KHK-Klassiker auch die Lungenembolie zu nennen. Ich habe mal gelesen, dass wir nur ein Drittel aller Lungenembolien überhaupt primär erkennen. Und ich erinnere mich selbst an Fälle, in denen entsprechende Patienten wegen völlig anderer Beschwerden aufgenommen wurden, wie z.B. Oberbauchschmerz ohne Dyspnoe. Nur dem aufmerksamen Kollegen, der bei der Abdomen-Sonographie auch mal eben auf das Herz geschallt hat und dort die Thromben gesehen hat, war damals die schnelle Diagnosestellung zu verdanken.
Auch der Patient, der vom Hausarzt mit „entgleistem Diabetes und Leistungsknick“ eingewiesen wurde, hatte schließlich eine beidseitige Hauptstamm-Lungenembolie. Im Nachhinein betrachtet hatte der Patient auch Beinschmerzen erwähnt, aber auch Schmerzen in den Armen und im Rücken, sodass primär niemand auf eine Lungenembolie gekommen ist. Nach der durchgeführten Lyse-Therapie waren die Zuckerwerte und die Leistungsfähigkeit wieder wie vorher.
Chirurgisch sieht es nicht einfacher aus. Ein chirurgischer Kollegen erwähnte mal die Regel, dass es „immer die Appendix sein kann, solange sie noch drin ist“. Auch hierzu ein Fall, an den ich mich lebhaft erinnere: Junger Medizinstudent, Diarrhö und Bauchschmerzen, Druckschmerz im Unterbauch mittig, kein Fieber. Im Aufnahmelabor auch nur leichte CRP-Erhöhung. Es sprach also eigentlich alles für einen einfachen Magen-Darm-Infekt. Bis auf die heftigen Schmerzen.
Der aufnehmende Chirurg sagte, dass das doch wieder eine „Medizinstudenten-Hypochonder-Diagnose“ sei, bei der mal wieder alles viel zu schlimm eingeschätzt wurde. Am nächsten Tag wurde dann doch operiert wegen der persistierenden Schmerzen – 2,5 Stunden bei perforierter und abszedierter Appendizitis. Und der Chirurg hat sich später entschuldigt mit den Worten „Es tut mir leid! Ich dachte, dass man mit diesem Befund nicht mehr laufen könne“.
Auch therapeutisch kann man Pseudofehler machen: Ich kenne leider mehrere Patienten, denen bei unklaren Befunden mit Malignitätsverdacht eine Operation empfohlen wurde und die durch Komplikationen dann bleibende Schäden erlitten oder starben. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Befunde gutartig waren – so hatte also die Entscheidung zur OP das Leben unnötig verkürzt.
Deswegen ist es so wichtig, dass bei Fehlern in Ruhe analysiert wird, was falsch gelaufen ist und wie man es besser hätte regeln können. Sehr positiv finde ich in diesem Zusammenhang die Critical-Incident-Reporting-Systeme (CIRS-Systeme), die sich um Fehleranalysen und die künftige Vermeidung von Fehlern kümmern.
Eher ambivalent sehe ich ehrlich gesagt die Transparenz-Offensiven mit Veröffentlichung der Komplikationsraten von Krankenhäusern bei häufigen OPs, beispielsweise hier. Ich habe nämlich inzwischen bei mehreren Patienten feststellen müssen, dass durch diese erzwungene Veröffentlichung von Zahlen sehr kreative Diagnosen entstehen. Ein Beispiel: Eine Patientin, die im Rahmen einer Varikosis-OP eine deutliche Rötung/Schwellung/Überwärmung mit verstärkten Schmerzen im Bereich der Kniekehlen-Wunde entwickelte. Das Krankenhaus, in dem die Patientin gewesen war, warb wohlgemerkt im Rahmen seiner Qualitätsoffensive darum, dass wir Patienten mit Infektionszeichen wieder dort vorstellen. Hab ich gemacht. Ergebnis: Die eindeutigen Infektzeichen seien „nur eine Reizung“. Interessanterweise sollte die Patientin trotzdem eine Woche lang ein Breitspektrumantibiotikum nehmen. Mal ganz ehrlich: Entweder war es eine Reizung, dann braucht die Patientin keine Antibiose oder es war ein Infekt, dann sollte man es auch so nennen. Punkt.
Anfangs hab ich mich noch gefragt, warum bei manchen durchaus bekannten Komplikationen seltsame Diagnosen auftauchen: „Überlastung“ oder „Reizung“ statt Infektion. Aber inzwischen führe ich es auf die verpflichtende Veröffentlichungen der Daten zurück: „Überlastung“ oder „Reizung“ tauchen in den abgefragten Komplikationen nicht auf – eine Infektion würde sehr wohl auftauchen und die Zahlen versauen.
Der Umgang mit Fehlern wird zusätzlich durch juristische Unsicherheiten verkompliziert. Früher konnte der Arzt den Versicherungsschutz verlieren, wenn er den Haftungsanspruch des Patienten anerkannte (nachzulesen z.B. hier). Viele Ärzte glauben deshalb noch heute, dass sie sich nicht entschuldigen dürfen. So auch ich: Erst durch die Kommentare unter diesem Artikel haben mich darauf aufmerksam gemacht, dass diese Annahme veraltet ist. Ich habe den Text daher entsprechend angepasst.
Wir dürfen also unser Mitgefühl ausdrücken und verlieren dadurch nicht auotmatisch den Versicherungschutz. Das ist wichtig, denn viele Patienten wünschen sich genau das. Sie wünschen sich jemanden, der erklärt, dass es einen Fehler gegeben hat und sagt, dass es ihm leid tut. Ich habe auch schon gehört, dass Patienten genau deshalb vor Gericht ziehen, damit jemand sagt: „Das ist nicht gut gelaufen. Es hat Fehler gegeben. Es tut uns leid“.
In dem oben erwähnten Ärzteblatt-Artikel wird explizit empfohlen wird, „das Gespräch mit dem Patienten zu suchen“. Gerade weil viele Patienten den Klageweg dann erst gar nicht einschlagen. Ich tue mich deshalb auch schwer damit, aus den Zahlen der Gutachterkommission genaue Aussagen über die Qualität der ärztlichen Arbeit abzuleiten. Ich habe selbst mehrere Zwischenfälle mitbekommen, bei denen Patienten trotz offensichtlicher Fehler, z.B. monatelanges Ignorieren eines erhöhten Blutdrucks in der Schwangerschaft mit nachfolgender Gestose, das Ganze nicht an die Gutachterkommission herangetragen haben.
Fest steht: Ein „Es tut mir leid“ in irgendeiner Form ist für alle Beteiligten wichtig. Denn genau das ist der Fall: Es tut einem leid, wenn einem Fehler passieren: Je nach Schwere hadert man mit sich und seiner Berufswahl. Mein Ansatz ist es natürlich, Fehler zu vermeiden. Aber ich muss mir auch zugestehen, dass ich in einer Hausarztpraxis, in der nicht ein ganzes Stationsteam den Patienten überwacht, nicht mehr tun kann, als mein Bestes zu geben.
Womit wir wieder am Anfang wären: Als Arzt muss man damit leben, dass man Fehler macht und falsche Entscheidungen trifft – auch wenn man nach bestem Wissen und Gewissen handelt. Und man muss auch mit den emotionalen Folgen leben. Über das Aushalten dieser Verantwortung, des Drucks und der Ungewissheit, die ensteht, wenn man knifflige Entscheidungen treffen muss, schreibe ich in einem anderen Artikel.
Abschließend sei noch folgendes gesagt: Ich finde die Formulierung des „eigenen Friedhofs“ nach all den Jahren immer noch etwas hart, andererseits kommen wir nicht umhin, uns klarzumachen, welche Folgen unsere Fehler haben können. Und das sollte man sich am besten schon als Student klarmachen, denn die Augen zu verschließen, hilft hier überhaupt nicht.
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