Die einen fühlen sich überfordert, die anderen hingehalten. Die Rede ist von der Digitalisierung. Im Gesundheitswesen rollt die Welle des Umbruchs gerade erst auf uns zu. Wie schaffen wir es, auf ihr zu surfen, anstatt von ihr überrollt zu werden?
Als freier Verband der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte gestaltet der NAV-Virchow-Bund proaktiv die Gesundheitspolitik der Zukunft. Unsere 7 Thesen zur Digitalisierung im Gesundheitswesen sollen zur Diskussion und zum Nachdenken anregen. Welche Chancen ergeben sich für Praxisärzte und ihre Patienten und wo müssen wir uns aktiv engagieren?
Im Dezember 2018 zeigte der Hacker Martin Tschirsich eindrucksvoll, wie es um den Datenschutz bei allen bisherigen Angeboten von Gesundheitsakten à la Vivy, TK-Safe und Co. bestellt ist. Das knappe Fazit: mager bis schlecht. Überall gab es Schwachstellen, die einem findigen Profi erlaubten, sensible Patientendaten von außen abzugreifen. Tschirsich machte auch klar: Selbst Daten, die nach heutigen Standards für Bankdaten anonymisiert und verschlüsselt wurden, werden mit großer Wahrscheinlichkeit innerhalb der nächsten 50 Jahre gehackt werden können.
Nun, ein gehacktes Bankkonto kann man schließen und neu eröffnen. Bei der eigenen Krankheitsgeschichte geht das nicht. Das ist der Grund, warum für Gesundheitsdaten ein höherer Sicherheitsstandard gelten muss als für Onlinebanking. Wer die Sicherheit von Patientendaten aufs Spiel setzt, untergräbt das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt. Ohne Vertrauen keine medizinische Versorgung.
Diese Erkenntnis bedeutet nicht automatisch, dass es gar keine elektronischen Patientenakten oder datengetriebenen Anwendungen geben sollte. Sie sollte vielmehr ein Ansporn sein, immer noch sicherere Lösungen zu entwickeln, die sich den immer neuen Bedrohungen anpassen. Auf keinen Fall dürfen wir diesen Schutz als Ausrede benutzen, gar nichts zu tun (siehe These 4).
Daten sind der wertvollste „Rohstoff“ des 21. Jahrhunderts. Die größten Konzerne der Welt, wie Google, Facebook und Amazon, haben ihre Geschäftsmodelle auf Daten ausgerichtet. Das funktioniert, weil viele Menschen aktuell ihre Daten relativ bedenkenlos teilen. Das Verständnis vom Wert der eigenen Daten wächst nur langsam. Datenschutz und Datensouveränität, also die Herrschaft über die eigenen Daten, gehen nicht zwangsläufig Hand in Hand.
Große Datenmengen („Big Data“) sind nicht nur für Unternehmen bedeutsam, sondern auch für die (medizinische) Forschung. Der deutsche Ethikrat hat das Konzept der „Datenspende“ entwickelt. Die Idee dahinter ist knapp gesagt: Wenn viele Bürger freiwillig oder gesetzlich vorgeschrieben anonymisierte Gesundheitsdaten für die wissenschaftliche Forschung zur Verfügung stellen, befördert das neue Erkenntnisse, die einer größeren Gruppe zugute kommen. Offen ist, ob und in welchen Fällen das Gemeinwohl die individuellen Datenschutzinteressen überwiegt.
Denkbar ist, dass viele unserer Daten künftig nicht als persönliches Eigentum, sondern als Gemeingut definiert werden, wie es bereits in Schweden der Fall ist. Bei Gesundheitsdaten sind die Hürden dafür allerdings besonders hoch (siehe These 1). Bürger und Patienten müssen darauf vertrauen können, dass die gespendeten Gesundheitsdaten nur in absolut vertrauenswürdige Hände gelangen und nur in anonymisiertem und aggregiertem Zustand vorliegen.Kontrovers ist auch die Frage, ob Menschen für die Datenspende incentiviert werden sollen. Die Befürworter versprechen sich davon eine schnellere Verbreitung des Konzepts. Die Gegner warnen vor Missbrauch und Ausbeutung. Nach dem Vorbild der aktuellen Organspende-Debatte brauchen wir auch eine breite Datenspende-Diskussion.
Manche Ärzte lehnen die Digitalisierung ab, weil sie ein höheres Haftungsrisiko fürchten. Werden Ärzte zum Beispiel verpflichtet, sämtliche Daten in der elektronischen Patientenakte im Rahmen der Anamnese und Diagnose heranzuziehen? Wer haftet für unvollständige oder fehlerhafte Daten, oder für falsche Auswertungen und Empfehlungen einer KI? Wird software-assistierte Medizin zukünftig zur Pflicht?
Viele dieser Fragen stellen sich heute schon auf ähnliche Weise im analogen Alltag. Da gibt es beispielsweise Patienten, die ganze Ordner mit Arztbriefen und Untersuchungsergebnissen mitbringen. Auch hier muss der Arzt von Fall zu Fall entscheiden, ob er diese Daten auswertet oder nicht, bzw. ob er sie auf anderem Weg (z. B. im Gespräch) erhebt. Die Bewertung, welche Information relevant sein könnte und welche nicht, ist bereits heute Alltag der ärztlichen Arbeit in Praxis und Klinik. Dort, wo Maschinen oder KI autonom agieren, sind die Hersteller in der Haftung. Werden sie dagegen nur unterstützend eingesetzt, bleibt der Arzt als Anwender theoretisch in der Letztverantwortung.
Praktisch ist selbst hier die Haftung beschränkt durch die Sorgfaltspflicht. Denn die ärztliche Sorgfaltspflicht gilt nur in einem Rahmen, den ein Arzt auch realistisch leisten kann. Ein Arzt haftet nur dann, wenn er seine Pflicht verletzt hat, weil er nicht gewissenhaft und aufmerksam war und nicht fachgerecht gehandelt hat. Im Umkehrschluss heißt das: Nutzt ein Arzt z. B. eine zertifizierte Software zur Unterstützung der Behandlung, muss er sich darauf verlassen können, dass die Software fehlerfrei arbeitet, solange es nicht eindeutige Hinweise für einen Fehler gibt. Die ärztliche Sorgfaltspflicht bleibt bestehen – im analogen genauso wie im digitalen Bereich.
Die Vogel-Strauß-Taktik ist keine sinnvolle Reaktion auf Veränderungen. Die Digitalisierung geht nicht weg, lässt sich nicht aussitzen oder wegdrängen. Sie ist bereits da, und in vielen anderen Ländern viel weiter fortgeschritten als in Deutschland. Das ist Chance und Gefahr zugleich.
Es ist eine Chance, weil wir aus den Fehlern anderer Länder lernen können. Es ist auch eine Gefahr, weil Lösungen aus Ländern mit niedrigeren rechtlichen und ethischen Standards heimische Entwicklungen ausbremsen können. Wo der Bedarf da ist und es eine Lösung gibt, hinter der vielleicht sogar ein etablierter Konzern mit vielen Ressourcen steht, haben Neuentwicklungen es schwer.
Wenn wir also Lösungen für das deutsche Gesundheitssystem wollen, die nicht von Apple und Google kommen und auf Profit statt Versorgungsqualität aus sind, dann werden wir sie selbst entwickeln müssen. Das Zeitfenster dafür ist aber klein und schrumpft mit jedem Tag. Denn Digitalisierung bedeutet auch, dass Entwicklungen immer rascher passieren.
Der Bedarf für digitale Lösungen ist da. Immer mehr Patienten, aber auch Ärzte und andere Leistungserbringer im Gesundheitswesen sind unzufrieden mit den aktuellen Zuständen und entdecken digitale Anwendungen mit eindeutigem Mehrwert. Wo Unzufriedenheit herrscht, steigt der Druck etwas zu verändern. Wer die Zeichen der Zeit erkennt, kann den Weg der Veränderung mitbestimmen. Wer verharrt, wird am Ende von der Welle überrollt.
Interoperabel, auf dem neuesten technischen Stand, intuitiv bedienbar, barrierefrei, auf dem Smartphone genauso zugänglich wie in der Arztpraxis, gleichzeitig vollkommen sicher vor unbefugtem Zugriff, geordnet, standardisiert, fehlerfrei, lückenlos, haftungssicher, durchsuchbar – die Anforderungsliste an die elektronische Patientenakte (ePA) und andere digitale Anwendungen im Gesundheitswesen könnten wir beliebig erweitern.
Es ist gut, dass in Deutschland der Datenschutz einen hohen Stellenwert hat. Es ist richtig, dass gerade im Gesundheitsbereich die Schutzmechanismen besonders hoch sein müssen (siehe These 1). Doch anstatt auf die Suche nach der „eierlegenden Wollmilchsau“ zu gehen, sollten wir akzeptieren, dass eine unvollständige aber funktionierende Lösung oftmals die bessere Alternative ist. Fast jede Software heutzutage wird nach Veröffentlichung weiter verbessert und um zusätzliche Funktionen erweitert („iterative Entwicklung“). Auch die ePA soll sukzesssive immer mehr Anwendungen erhalten. Wer in Teilprojekten denkt, arbeitet überschaubarer und schneller.
Es wäre falsch, in der Digitalisierung die Lösung für alle Probleme im Gesundheitswesen zu sehen. Im besten Fall hilft die Digitalisierung, die vorhandenen Ressourcen etwas effizienter einzusetzen. Doch selbst wenn sie einige Probleme löst, werden neue auftauchen.
Und so mancher Hype rund um Künstliche Intelligenz, Big Data und Co. endet in einer herben Enttäuschung. Googles Suchalgorithmus scheiterte nach ersten Erfolgen bei der Vorhersage von Grippewellen. IBMs Dr. Watson gab so häufig falsche Therapieempfehlungen, dass zahlreiche Kliniken den Einsatz des Supercomputers stoppten.
Kritiker wie Dr. Gerd Antes glauben, Big Data bringe die Evidenzbasierte Medizin nicht weiter. Im Gegenteil: Unechte Korrelationen und falsche Ergebnisse würden sich häufen, während die wenigen relevanten Informationen im Berg der irrelevanten Daten untergingen. Auch wenn es kontra-intuitiv sei, wäre mehr Information dieser These zufolge schlechter.
Die Digitalisierung kann kein Selbstzweck sein. Nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch sinnvoll. Weder blinder Technikglaube noch totale Ablehnung bringen uns weiter. Die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo dazwischen.
Auch wenn KIs in absehbarer Zeit einige routinemäßige Aufgaben übernehmen, die heute noch von Ärzten geleistet werden, bedeutet das noch nicht, dass Ärzte überflüssig werden. Das Gespräch von Mensch zu Mensch, das Einfühlen, Erklären, Bestärken – kurz, die sprechende Medizin – wird ihre Bedeutung behalten, wahrscheinlich sogar zunehmen. Computer sind bei regelbasierten, repetitiven Anwendungen dem Menschen überlegen. Der Arzt aus Fleisch und Blut definiert sich aber nicht nur durch sein medizinisches Wissen, sondern auch über seine Erfahrung, seine Intuition und seine Empathie. Gute Medizin braucht Zuwendung. Hier stößt Technik an ihre Grenzen.
Die Aufgaben werden neu zwischen Mensch und Maschine aufgeteilt. Für Ärzte, die keine Berührungsängste mit der Digitalisierung haben, kann das zur Chance werden.
Stimmen Sie unseren Thesen zu? Welche Fragen beschäftigen Sie rund um die Digitalisierung im Gesundheitswesen? Hinterlassen Sie uns einen Kommentar!
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