Die Zahl der Frühgeborenen unter 1.500 Gramm ist in Deutschland gestiegen. Wie der Neonatologe vorgeht, entscheidet er nicht allein. Mittlerweile werden die Eltern viel mehr einbezogen als früher. Wie gelingt es am besten, gemeinsam eine Entscheidung über Leben und Tod zu treffen?
Rund 11.000 Kinder kommen in Deutschland vor der 32. Schwangerschaftswoche zur Welt (Stand 2016). Die Zahl der Frühgeborenen unter 1.500 Gramm hat dabei zwischen 2008 und 2017 um ein Fünftel zugenommen. Und von 1.000 Säuglingen überleben zwei nicht den ersten Monat ihres Daseins. Sowohl an den großen Perinatalzentren in Berlin, Köln und München mit über 130 Frühgeburten pro Jahr, als auch in den kleineren Kliniken stehen Ärzte und Pflegepersonal zusammen mit den Eltern dabei oft vor einer komplexen Frage: Wie weit sollen die Bemühungen gehen, einem Neugeborenen mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen das Leben zu ermöglichen?
Besonders Frühchen in der 22. und 23. Woche können oft nur mit erheblicher Morbidität überleben. Aber auch bei Geburten mit normalem Schwangerschaftsverlauf führen Komplikationen vergleichsweise oft zu hypoxischer Enzephalopathie oder anderen neurologischen Schäden. Nicht selten baut sich dann ein Konflikt zwischen den Behandlungswünschen der Eltern und den Verantwortlichen in der Neugeborenen-Intensivstation auf.
Dabei liegt das letztliche Entscheidungsrecht, ob und wie eine Behandlung ihres Sprösslings weitergehen soll, bei den Eltern. Bis vor einigen Jahren galt die Empfehlung, dass der Arzt die Eltern mit allen Informationen versorgen sollte, die ihm zum entsprechenden Zeitpunkt zur Verfügung stehen. Auch 2009 war in den Richtlinien noch der Satz zu finden: „Den Eltern soll eine möglichst genaue Prognose über Morbidität und Mortalität anhand der vorhandenen Daten für ihr Kind gegeben werden.“ Nicht selten präsentierte dann der Arzt die Informationen in einer Weise, die den Eltern eine Entscheidung im gewünschten Sinn zumindest nahelegte. Viele Ärzte fürchteten, dass sich wohl viele Eltern für die Sterbehilfe schon kurz nach der Geburt aussprechen und vor einem Leben mit vielen Mühen für Kind und Betreuer zurückschrecken würden.
Häufig kam es dabei zu Situationen, in denen sich bei rotierenden Schichten auf der Intensivstation auch innerhalb des medizinischen Personals ganz unterschiedliche Ansichten über die beste Behandlung zum Wohl des Kindes abwechselten. Diese waren oft abhängig vom familiären Hintergrund von Schwester und Arzt. Außerdem sind nicht immer alle Daten für eine ausreichend sichere Prognose vorhanden. Studien zeigen, dass Meinungsunterschiede nicht dann entstanden, wenn der Arzt die schlechten Nachrichten herunterspielte, um Eltern zur Fortsetzung ärztlicher Bemühungen zu bewegen. Vielmehr zeigte sich das Gegenteil: Eltern waren bereit, sehr viel Mühe für ihr behindertes Kind auf sich zu nehmen, während die Ärzte das für unangemessen hielten.
Vor etwa 15 Jahren wurde deswegen eine andere Art der Entscheidungsfindung entwickelt. Sie greift besonders dann, wenn der Wille der Eltern sich nur wenig mit dem der professionellen Mediziner überschneidet: „Shared Decision Making“. Der Arzt, der um die Entscheidungshoheit der Eltern weiß, wird damit zum „Entscheidungs-Architekten“ wie es John Lantos vom Kansas City Children’s Mercy Hospital in einem Artikel im New England Journal of Medicine im Herbst vergangenen Jahres beschreibt. Dabei geht es vor allem um die Wertvorstellungen der Eltern. Wie sehen sie die Situation ihres Kindes? Was bedeutet für sie eine Behinderung?
Zuerst sollen sich die Eltern über ihre Prioritäten klar werden, bevor sie über die Fortsetzung oder den Abbruch medizinischer Maßnahmen entscheiden. Dabei können dann Fakten helfen, den weiteren Weg besser zu sehen. Auf einer Intensivstation sind Eltern oft ganz überraschend einem hohen Stresslevel ausgesetzt. Sie wollen das Beste für ihr Kind, ihm aber auch unzumutbares Leiden ersparen.
„Hoffnung, Spiritualität, Mitgefühl, der Einfluss anderer Familienmitglieder und religiöse Weltanschauungen beeinflussen sehr stark Entscheidungen über Leben und Tod ihrer Kinder“, so Stephanie Kukora und Renee Boss aus Ann Arbor und Boston in einem Artikel in Seminars in Fetal and Neonatal Medicine. Gerade in einer solchen Ausnahmesituation ist das Vertrauen in die medizinische Versorgung ihrer Neugeborenen ein enorm wichtiger Faktor, um wirklich autonom entscheiden zu können.
Aber auch der Arzt sollte sich, will er dieses Vertrauen herstellen, auf den Weg machen. Vor dem Gespräch mit den Eltern, so schreibt Lantos, muss er sich dabei seiner eigenen Vorurteile und vorgefasster Meinungen bewusst werden. Das gilt für die verschiedenen Aspekte seiner Ansicht über körperliche und geistige Behinderung, Bildungsniveau und sozialen Status der Eltern. Es betrifft aber auch andere Faktoren, die seine Einstellung dazu beeinflussen, wie er gerade diesem betroffenen Elternpaar am besten helfen könnte.
Im zweiten Schritt sollte der Arzt dann von den Eltern erfahren, was ihnen wichtig ist. Mit offenen Fragen bekommt er idealerweise ein Gespür für ihre Hoffnungen, Ängste, Ziele und Wertvorstellungen. Und auch dafür, was diese Eltern genau in dieser Situation brauchen. Einige Paare wollen entsprechende Statistiken über die Aussichten von Kindern mit ähnlicher Lage, andere brauchen zunächst einmal Beistand oder jemanden, der mit ihnen über ihre Sorgen redet.
Im Gegensatz zur patriarchalischen Rolle des Arztes von früher steht heute das Zuhören und Erforschen von dem, was für die Eltern bedeutsam ist im Vordergrund – auch dann, wenn es den eigenen Ansichten widerspricht. Solche Gespräche brauchen Zeit, ein Gut, das leider auf einer hektischen Intensivstation knapp ist. Dennoch ersparen sie oft langwierige Diskussionen nach der Entscheidung. Und zwar dann, wenn die Eltern noch lange mit den Konsequenzen leben müssen.
Ein Beispiel aus dem Artikel im New England Journal: Das Elternpaar, beide ohne High-School-Abschluss und mit zwei anderen Kindern, reden mit der Neonatologin über ihr drittes Kind. Geboren wurde es in der 27. Woche mit alveolären und intraventrikulären Hämorrhagien. Die Ärztin würde normalerweise bei den düsteren Prognosen für das weitere Leben des Kindes für ein Beenden der lebenserhaltenden Systeme plädieren. Stattdessen stellt sie sich zuerst den Fragen der Eltern: „Werden wir unser Kind auch lieben können, wenn es behindert ist?“ Und weiter: „Wird unser Kind auch fähig sein, uns zu lieben?“ Auf beide Fragen kommt ein „Ja“ der Ärztin – erst recht, nachdem der Vater von seinem Neffen mit Down-Syndrom erzählt hat, in den sie ganz vernarrt seien.
Noch, so geht das Gespräch weiter, sei es zu früh, um genauere Aussagen über das weitere Leben des Kindes mit den zu erwartenden Schäden zu treffen. Die Ärztin versprach den Eltern jedoch ein tägliches Update über das Befinden des Kindes. Obwohl das Abschalten der Systeme nie explizit angesprochen wurde, bekam sie mit diesen Gesprächen ein gutes Gefühl dafür, woran die Eltern ihre Entscheidung festmachen würden.
Immer mehr Technik macht es möglich, auch Frühgeborene ab der 22. Schwangerschaftswoche dauerhaft am Leben zu erhalten. Überlebenschancen von 30-50 Prozent nach dieser kurzen Reifung im Uterus waren früher undenkbar. Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik machen Schäden des Embryos lange vor der Geburt sichtbar. Das aber erleichtert für die Eltern nicht unbedingt die Suche nach der richtigen Entscheidung.
Letztlich geht es schließlich immer darum, ob der Schmerz, den das Kind im Laufe seines weiteren Lebens – auch durch notwendige Operationen – schwerer wiegt oder die Vorteile des Überlebens. Oft ist die Entscheidung auch nicht endgültig. Der Erfolg der Maßnahmen erfordert dann immer wieder eine Überprüfung dessen, was einmal als Therapieziel gegolten hat.
Aber auch bei einem Entschluss, die lebenserhaltenden Systeme abzustellen, kommt dem Arzt die Aufgabe zu, die Eltern nicht allein zu lassen. „Zur Leidensminderung des Kindes kommt als weitere Aufgabe die Begleitung der Eltern hinzu, die mit dem Tod ihres Kindes ein Leben lang zurechtkommen müssen. Sterbebegleitung bezieht sich in dieser Situation auf Kind und Eltern.“ So steht es in den Leitlinien ,Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit‘ von 2015.
Psychologen und Seelsorger unterstützen Eltern und Arzt dabei, wenn gewünscht. Eines der Themen solcher Gespräche beim Abschied von einem Kind könnten die Konsequenzen für eine weitere Schwangerschaft sein. Ist genug Vertrauen zwischen Arzt und Eltern da, um den Eltern Ängste bei einer möglichen erneuten Schwangerschaft zu nehmen?
„Shared Decision Making“ – auch in Deutschland wird diese Praxis schwieriger Gespräche mittlerweile zum Standard, wenn es um die Zukunft des wenige Tage alten Lebens geht. Schwierig auch deshalb, weil sich der Arzt mit seinem Wissen und der eigenen Meinung dazu zurückhalten muss, wann ein Leben noch lebenswert ist. Wenn ein solches Gespräch gelingt, kann der Arzt ohne innere Sperren aber mit gutem Gewissen auch ein Leben mit Handicap in die Hände derjenigen legen, die oft für den Rest ihres Daseins dafür sorgen müssen.
Artikel von Erich Lederer
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