Die Zahl der Übergewichtigen steigt hierzulande und weltweit. Schuld daran sind eine ungesunde Ernährungsweise und zu wenig Bewegung. In Mexiko hat die Einführung einer Zuckersteuer den Limonaden-Konsum reduziert. Hierzulande wird weiterhin gestritten.
Mexiko hat besonders unter den Folgen des ungesunden Lebenswandels seiner Einwohner zu leiden: Zwei von drei Erwachsenen sind übergewichtig oder adipös, ebenso wie jeder Dritte unter 18-Jährige. Da der drastische Anstieg der Prävalenz von Übergewicht und Diabetes mit einem stark gestiegenen Konsum zuckerhaltiger Limonaden einherging, beschloss das Land im September 2013, zum Jahresbeginn eine Steuer auf mit Zucker gesüßte Getränke einzuführen, durch die sich der Preis um ca. 10 % erhöhte. Die im Januar 2016 im BMJ veröffentlichte Auswertung der Einkäufe 6.253 urbaner Haushalten ergab, dass nach Einführung der Steuer die Käufe besteuerter Getränke um durchschnittlich 6 % fielen, wobei der Rückgang mit der Zeit kontinuierlich stieg und zum Ende des Beobachtungszeitraumes (Dezember 2014) bei 12 % lag. Dieser Effekt war in allen sozioökonomischen Schichten zu beobachten, am stärksten ausgeprägt war er jedoch in den Haushalten der Geringverdiener. Im selben Zeitraum nahm der Kauf unbesteuerter Getränke (im wesentlichen Wasser) um 4 % zu. Ob sich der beobachtete Rückgang allerdings langfristig fortsetzt oder stabilisiert, wird die Zeit zeigen – und auch, inwiefern sich der reduzierte Konsum auf Körpergewicht sowie Morbidität und Mortalität der Bevölkerung auswirkt.
Auch in Deutschland nimmt die Zahl der Übergewichtigen und Adipösen immer weiter zu. 62 % der Männer und 43 % der Frauen sind übergewichtig, insgesamt 16 % sind adipös. Und das Problem ist auch hierzulande nicht nur auf die Erwachsenen beschränkt: Daten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge sind 15 % aller 3- bis 17-Jährigen übergewichtig – das sind mehr als 1,5 Millionen Kinder. Übergewicht und Adipositas stellen einen der wichtigsten Risikofaktoren für zahlreiche Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bestimmte Krebsarten dar. Laut einer 2015 in PLOS One veröffentlichen Studie der Universität Halle-Wittenberg, die vom Bundesforschungsministerium gefördert wurde, verursacht ungesunde Ernährung hierzulande jährliche Kosten von fast 17 Milliarden Euro – 8,6 Milliarden Euro entfallen dabei allein auf den übermäßigen Konsum von Zucker. Indirekte Kosten wie beispielsweise Arbeitsausfall und Kurbehandlungen sind in der Analyse noch nicht einmal mit berücksichtigt.
Im Durchschnitt nimmt ein Deutscher rund 90 g Zucker pro Tag zu sich. Die WHO empfiehlt dagegen, den Zuckerkonsum so zu reduzieren, dass freier (d. h. zugesetzter) Zucker nur maximal 10 % (besser 5 %) der täglichen Gesamtenergiezufuhr ausmacht. Abhängig von Geschlecht, Alter und körperlicher Aktivität entspricht dies ca. 60 g (besser 30 g) Zucker. Überraschenderweise gibt es aber dem aktuellen Ernährungsreport des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zufolge beim Thema gesunde Ernährung anscheinend wenig Grund zur Sorge: Der repräsentativen Befragung von 1.000 Bundesbürgern zufolge schaffen es die meisten, sich im Alltag gesund und ausgewogen zu ernähren. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) übt allerdings heftige Kritik am Report. „Diese Darstellung des Ministeriums widerspricht fundamental der Ernährungsrealität in Deutschland“, meint DDG-Präsident Baptist Gallwitz. Seiner Meinung nach werde übersehen, dass der Verbrauch von Zucker, Fett und Salz ebenso wie die Prävalenz von Übergewicht in Deutschland viel zu hoch sei. „Offensichtlich versucht das Ministerium mit dieser geschönten Darstellung dem dringenden politischen Handlungsbedarf auszuweichen“, ergänzt der Geschäftsführer der DDG, Dr. Dietrich Garlichs. Nicht geschmeckt haben dürfte der DDG vor allem das Ergebnis, dass eine Besteuerung von besonders fett- oder zuckerreichen Lebensmitteln mehrheitlich abgelehnt wird: Nur 43 % der Befragten hielten diese Maßnahme für geeignet, um einer gesünderen Ernährung den Weg zu ebnen. Die DDG wirft dem BMEL vor, bei der Frage einseitig die Verteuerung hervorgehoben zu haben, ohne darauf hinzuweisen, dass gesunde Lebensmittel gleichzeitig billiger werden sollen. Zudem kritisiert die DDG, dass die Einschränkung von Lebensmittelwerbung, die sich speziell an Kinder richtet, gar nicht mit in die Umfrage aufgenommen worden war. „Insgesamt ist die Umfrage ein Dokument der Beschönigung und der politisch gewollten Untätigkeit“, resümiert Garlichs. Bereits im Mai hatte die DDG eine Forsa-Umfrage der DAK als irreführend und unseriös bezeichnet. Die Umfrage war ebenfalls zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Zuckersteuer von zwei Dritteln der Befragten abgelehnt wird. Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft befürwortet den Vorschlag, als verhältnispräventive Maßnahme energiedichte Lebensmittel zu besteuern. „Wir müssen es den Menschen aller gesellschaftlichen Schichten leichter machen, gesunde Entscheidungen zu treffen“, so DAG-Präsident Prof. Dr. Martin Wabitsch.
Es dürfte wenig überraschen, dass die Lebensmittelindustrie den Forderungen nach einer Zuckersteuer eine klare Absage erteilt. Der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde, der Spitzenverband der deutschen Lebensmittelwirtschaft, spricht sich eindeutig gegen eine Zuckersteuer aus: „Sondersteuern auf einzelne Nährstoffe zu erheben, entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage, denn einzelne Nährstoffe sind nicht für Übergewicht verantwortlich.“ Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) bezeichnete die Forderungen nach einer Zuckersteuer zudem jüngst als „diskriminierend und dreist“. Die NGG-Vorsitzende Manuela Rosenberger erklärte dazu: „So eine Steuer trifft natürlich besonders Geringverdiener und das impliziert, dass sich besonders diese schlecht ernähren.“ Der deutsche Präventivmediziner Dr. Johannes Scholl widerspricht dem Vorwurf, die Steuer sei ungerecht, weil sie Geringverdiener stärker treffe: „Die Zuckersteuer ist keineswegs sozial ungerecht“, argumentiert er. Speziell für die einkommensschwächere Zielgruppe, die oft auch einen niedrigeren Bildungsstatus habe, sei die Steuer gesundheitlich besonders sinnvoll, weil diese Gruppe besonders viele zuckerhaltige Lebensmittel und Getränke konsumiere und sie ein höherer Preis vom Kauf abhalten könne. Das BMEL lehnt die Besteuerung ungesunder Lebensmittel ebenfalls ab, allerdings aus anderen Gründen: Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt steht dazu, mit Forderungen nach einer Fett- oder Zuckersteuer nur wenig anfangen zu können, da er Bevormundung ablehne. „Der freiheitliche Staat kann seine Bürger informieren, ihnen aber nicht die Entscheidung abnehmen, wie sie sich ernähren“, so Schmidt. „Die Verantwortung für die eigene Gesundheit hat im Grunde jeder selbst.“ Dass nicht nur seitens der Erzeuger, sondern auch seitens des BMEL kein Interesse an der Einführung einer Zuckersteuer besteht, überrascht die DDG nicht. „Das Landwirtschaftsministerium vertritt primär die Interessen der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie“, erklärt Garlichs. Deshalb fordert er, die Zuständigkeit für Ernährung als Strategie der Prävention und Gesundheitsförderung aus dem Landwirtschaftsministerium ins Gesundheitsministerium zu verlagern, um den derzeitig bestehenden Interessenkonflikt aufzuheben.
Im Ausland haben sich erst wenige Länder an die Besteuerung von zucker- und fettreichen Nahrungsmitteln gewagt, darunter Frankreich, Finnland, Dänemark und Ungarn – und damit durchaus Erfolge erzielt. Einem Bericht der WHO zufolge hat sich der Konsum der besteuerten Lebensmittel in allen untersuchten europäischen Ländern nach Einführung der Steuer reduziert. Aus Ungarn wurde zudem beobachtet, dass zahlreiche Hersteller die Zusammensetzung ihrer Produkte änderten, um die Steuer zu umgehen. Auch in Großbritannien plant der staatliche Gesundheitsdienst NHS die Einführung einer Sonderabgabe auf zuckerhaltige Lebensmittel [Paywall] – betroffen wären davon aber nur Getränke und Speisen aus Krankenhausautomaten oder Cafeterias. Die britische Ärztegesellschaft BMA hat sich dagegen jüngst für ein ganzes Maßnahmenbündel ausgesprochen, das unter anderem auch eine Steuer auf stark zuckerhaltige Getränke in Höhe von mindestens 20 % des Verkaufspreises enthält. Ziel des Pakets ist es, Kinder und Jugendliche besser vor den Folgen einer ungesunden Ernährungsweise zu schützen.
DDG-Geschäftsführer Garlichs ist trotz des Gegenwinds aus Ministerium und Industrie davon überzeugt, dass eine Zuckersteuer der richtige Weg für Deutschland ist: „Ein Preissignal könnte der Bevölkerung helfen, gesündere Kaufentscheidungen zu treffen und der Lebensmittelindustrie Anreize bieten, gesündere Produkte zu entwickeln. Denn bisherige Appelle an die Vernunft des Einzelnen sind angesichts des Tsunamis der chronischen Krankheiten nachweislich gescheitert.“ In einem begleitenden Editorial zur Mexiko-Studie warnt jedoch Dr. Franco Sassi, Gesundheitsökonom der OECD, davor, die Zuckersteuer als Zauberwaffe im Kampf um die öffentliche Gesundheit zu sehen. Seiner Meinung zufolge seien Steuern auf gesundheitlich bedenkliche Lebensmittel nämlich nur in einem breiteren Kontext sinnvoll. „Es ist kein Erfolg für die öffentliche Gesundheit, wenn man die Leute dazu bringen muss, für ihre potenziell ungesunden Konsumentscheidungen zu bezahlen“, erklärt Sassi. „Andere, komplementäre Strategien sind ebenfalls notwendig. Hierzu gehören Regulierungsmaßnahmen wie beispielsweise die Nährwertkennzeichnung, die Regulierung von Health Claims und Werbung.“ Doch auch die Gesundheitserziehung sei wichtig, ebenso wie Anreize für Forschung und Entwicklung in der Lebensmittelproduktion, freiwillige Initiativen mit fest vereinbarten Zielen und unabhängiger Überwachung sowie Veränderungen in der Umgebung, in der die Nahrungsmittelwahl stattfindet. Und auch die Hausärzte sieht Sassi in der Pflicht: Ihre Aufgabe sei es, Risikopersonen besser zu beraten. Ähnlich sieht das auch die WHO. In ihrem jüngst erschienenen Bericht zur Fettleibigkeit von Kindern und Jugendlichen spricht sich die zuständige Kommission für ein umfassendes Bündel aus aufeinander abgestimmten Programmen aus, um der globalen Adipositas-Epidemie zu begegnen. Eine der Empfehlungen des Programms zur Verbesserung der Ernährung: Die Implementierung einer effektiven Steuer auf mit Zucker gesüßte Getränke. Es scheint fraglich, ob Deutschland bei dieser Strategie mitziehen wird.