Im Internet wird viel bewertet. Daumen hoch, Daumen runter, Likes und Dislikes. Aber sind Bewertungen von Menschen sinnvoll? Hier meine zehn Gründe, warum ich Bewertungsportale für Ärzte zum Kotzen finde.
1. Die Bewertungkriterien sind nicht einheitlich
Auf den Plattformen werden Dinge bewertet wie „Öffnungszeiten“, „Parkmöglichkeiten“, „behindertengerecht“ oder „alternative Heilmethoden“. Allein schon diese vier sind sehr subjektiv konnotiert. Es gibt Menschen, die es schätzen, bereits um 7.30 Uhr beim Arzt zu sitzen, andere wiederum möchten das erst um 20 Uhr. Es gibt Patienten, die es hassen, Termine zu vereinbaren und andere, die darauf pochen. Parkplätze werden oft nicht wahrgenommen oder die Patienten haben unterschiedliche Auffassungen von Bequemlichkeit. Parkplätze im Parkhaus auf der anderen Straßenseite empfinden manche als nicht zumutbar, andere finden das praktisch.
Der Behindertenaufzug ist mit einem Schloss gesichert? Er liegt im anderen Treppenhaus und die Verbindung findet erst im zweiten Stockwerk statt? Die Behindertentoilette ist in der normalen Toilette zu finden? Das mag stören, ist aber gesetzeskonform.
Es gibt Menschen, die möchten evidenzbasiert behandelt werden. Sie suchen bewußt Ärzte ohne alternative Heilmethoden auf. Ist nun die Note 1 auf diesem Punkt gut oder die Note 6?
Wer auf den Arzt sauer ist, wird dazu tendieren, alle Einzelkriterien abzuwerten, ohne sie im Einzelnen wirklich zu prüfen. Wer zufrieden ist, wird dazu tendieren, jeden Punkt mit einer 1 zu werten, auch wenn die Praxis z.B. gar keine „alternativen Heilmethoden“ anbietet.
2. Bewertungen von Ärzten können nie objektiv sein
Die Arzt-Patienenbeziehung ist per se eine subjektive, eine Kommunikationsbeziehung. Jeder Patient ist anders und jedes Krankheitsbild muss individuell bewertet werden. Nur sehr wenige Erkrankungen lassen sich objektiv oder automatisiert beurteilen. Deshalb werden auch Apps oder Medizincomputer letztendlich scheitern.
Was dem einen Patienten gut tut, mag dem anderen schaden. Die einen Eltern wissen es zu schätzen, wenn sie nicht bei jedem Wehwehchen ein Rezept bekommen, sondern kompetent beraten werden. Andere wollen immer einen Hustensaft, auch wenn der nichts bringt. Gibt's den Saft nicht, heißt es schnell „Der schreibt ja nie etwas auf.“ Diese Patienten wollen keine Lebensberatung, sondern schnelle Abhilfe.
3. Ärzte-Bewertungsportale sind manipulierbar
Es ist ein Einfaches, Fake-Accounts anzulegen. Für die Patienten und für die Ärzte. Inzwischen müssen die Plattformen auf Nachfrage nachweisen, dass ein Arzt-Patientenkontakt stattgefunden hat – auf Nachfrage! Es hat aber bereits Fälle gegeben, in denen Ärzte sich untereinander auf Plattformen über Fake-Accounts schlechte Bewertungen geschrieben haben.
Umgekehrt empfehlen Praxisbetreuer, die Bewertungsportale zum eigenen Vorteil zu nutzen. Familienmitglieder oder zufriedene Patienten sollen motiviert werden, positive Wertungen zu hinterlassen. Frei nach dem Motto: „Schreiben Sie über uns auf Facebook und bekommen Sie einmal Antibiotika umsonst.“
4. Ärztliche Kunst wird von Laien beurteilt
„Wir waren zwei Tage später im Krankenhaus und die haben eine gaaanz schwere Lungenentzündung festgestellt. Warum wir nicht schon viel früher gekommen seien, wurden wir dann gefragt.“ Solche oder ähnliche Geschichten hört jeder Arzt einmal. Zusätzlich wurde die rettende Diagnose womöglich vom jüngsten Assistenzarzt in der Klinik gestellt, der dazu auch noch einen schlauen Spruch auf Lager hatte.
Ohrenschmerzen können heute Ohrenschmerzen sein und zwei Tage später eine schwere Entzündung anzeigen. Wenn ein nachbehandelnder Arzt eine Expertise gibt, bedeutet das nicht automatisch, dass sie richtig ist, nur weil es die zweite ist. Oder dass die erste falsch war. Krankheiten verändern sich.
Krankheiten lassen sich auch nicht per Google diagnostizieren. „Im Internet steht aber…“, ja. Trotzdem gibt es Differentialdiagnosen, Kardinalsymptome und Leitlinien. Gerade weil sich ärztliche Kollegen manchmal nicht dran halten, wird das für den Laien nicht einfacher.
Wissen ist Wissen und keine Meinung. Das medizinische Wissen umzusetzen in die reale Welt bedeutet, ärztlich tätig zu sein.
5. Gesetz der großen Zahl ist nicht anwendbar
Das verhindert die Subjektivität der Bewertungen. Wenn ich einen Kopfhörer bei Amazon schlecht bewerte, kann das daran liegen, dass ein Draht nicht richtig eingelötet wurde. Wenn aber der gleiche Fehler zehnmal schlecht bewertet wurde, ist der Kopfhörer kein Montagsmodell, sondern die Produktion ist schlecht.
Auch über Geschmack lässt sich streiten. „Esst mehr Sch…, zehntausend Fliegen können nicht irren“, ist dann ein beliebter Spruch. Aber wenn eine neue Haribo-Geschmacksrichtung von hundert Menschen abgewertet wird und nur bei einem gut ankommt, dürfte etwas dran sein.
Wenn einem Patienten beim Arzt nicht gefällt, dass er sein Auto nicht parken kann und dem nächsten, dass die fMFA unfreundlich waren, der dritte aber aufdeckt, dass dem Arzt ein Kunstfehler unterlaufen ist, werden alle drei Punkte als gleich gewertet.
Wer viele Patienten betreut, erhöht die Anzahl derer, die die Arztpraxis potentiell bewerten können. Bewertungsportale errechnen eine Durchschnittsnote. So bekommt z.B. der Arzt mit zwei sehr guten Bewertungen (bei nur zwei Bewertungen insgesamt) ein besseres Ranking als der Arzt mit zwanzig sehr guten Bewertungen und einer mangelhaften (bei insgesamt einundzwanzig Bewertungen).
6. Jameda und Co. sind Werbeplattformen für Ärzte
Viele Portale erlauben den Ärzten, ein Profil anzulegen. Sie müssen sich dafür bei den Portalen einkaufen, teils mit Einfach-, Premium- oder Excellence-Profilen. Dann können sie Beurteilungen kommentieren, einfacher löschen lassen und werden im Ranking nach oben gepusht. Das finanziert die Plattformen, manipuliert aber auch die beworbene Objektivität. Niemand sollte denken, dass die Betreiber von Ärzte-Bewertungsportalen selbstlose Meinungsvermittler sind.
Diese Werbemöglichkeit für Ärzte wird von den Plattformen massiv beworben. Besonders pervertiert sind Plattformen, bei denen Ärzte andere Ärzte bewerten sollen. Siehe Focus-Listen.
7. Mundpropaganda ist etwas anderes
Bewertungen werden gerne gepriesen als die moderne Form der Mundpropaganda. Ich glaube nicht, dass das vergleichbar ist. Deine Bekannten kennst du gut – die Nachbarn, deine Freunde, vielleicht auch die Eltern in der Pekip-Gruppe oder beim Babyschwimmen. Deine Hebamme kann vielleicht ganz gute Tipps geben. Aber diese Menschen kannst du dabei einschätzen, du kennst ihre Vorbehalte und ihren Geschmack. Du spürst vielleicht, ob du ihrem Urteil trauen kannst.
Auf Bewertungsportalen kennst du niemanden. Du weißt nicht, ob ein Troll oder Hater gerade kommentiert oder die Ehefrau des Praxisinhabers. Bewertungsportale gaukeln uns vor, dass Menschen mit den gleichen Interessen nach dem gleichen suchen wie wir, aber das ist nicht unbedingt so. Bewertungen sind vielmehr immer emotional gesteuert, der Mensch dahinter nicht sichtbar.
8. Bewertungen sind immer ad-hoc Bewertungen
Es ist auch bei Bewertungen von Gegenstände offensichtlich, dass mehr Menschen geneigt sind, eine schlechte Bewertung abzugeben, wenn sie unzufrieden sind, als eine gute, wenn alles in Ordnung war. Die Firmen haben das erkannt und schicken uns per E-Mail eine Erinnerung, wir sollen doch gute Bewertungen abgeben, wenn wir zufrieden sind. Nach schlechten Bewertungen braucht niemand zu fragen.
Die Bewertungen zu meiner Praxis gehen immer in beide Extreme: sehr gut oder grottenschlecht. Das ist doch klar. Wenn wir begeistert sind, wollen wir vielleicht mal Lob loswerden, wenn wir enttäuscht wurden, wollen wir den Ruf der Praxis zerstören. Beides funktioniert nur durch Extrembewertungen. Es finden sich kaum Noten zwischen 2 und 4 bei Arztbewertungsportalen, die 1 und 6 überwiegt.
Schaue ich meine Bewertungen durch, so bekam ich immer dann eine Abwertung, wenn Eltern „etwas nicht bekommen haben“, ein Heilmittelrezept, einen unnützen Hustensaft oder einen Kurantrag, „weil andere ja auch mit ihren Kindern in den Urlaub fahren“. Patienten, die jahrelang zufrieden waren, haten ad-hoc, weil sie ihren Willen nicht bekommen haben. Das ist sehr schade und bildet nur ein Momentum ab, keinen Zustand.
9. Ärzte sind nicht vergleichbar
Ärzte sind keine Sachen, die immer gleich sind, die aus der Fabrik kommen und genormt produziert werden. Montagsmodelle wie die nicht sauber gelöteten Kopfhörer sind Fehler im System, Ärzte sind nicht so. Alleine deswegen kann man sie nicht bewerten.
Ärzte haben verschiedene Auffassungen von Medizin. Sie sind wie Musiker, die die Noten, die ihnen die wissenschaftliche Medizin vorgibt, sehr verschieden interpretieren – zeitlich wie fachlich. Der eine wartet mit Antibiotika ab und bestellt Patienten kurzfristiger wieder ein, der andere behandelt sofort. Der eine erklärt, dass eine Vielzahl an Alternativmedizin nur Placebowirkung hat, der andere setzt genau diese Wirkung ein und der dritte verkauft die Alternativen als einzige Wahrheit über allem anderen.
Patienten sind nicht vergleichbar. Manche möchten genau das so und andere gerade anders. Deshalb sind Patienten auch keine Kunden und Ärzte keine reinen Dienstleister. Bei der Arzt-Patientenbeziehung ist es wie mit dem Deckel und dem Topf: Wenn es nicht passt, dann passt es nicht.
Und der 10. und wichtigste Punkt, warum Arztbewertungsportale zum Kotzen sind:
10. Ärzte sind keine Dinge, sondern Menschen
Bewertungsportale sind ein Teil der Internetkultur, daran kommen wir nicht vorbei. Jeder nutzt sie, ob passiv oder aktiv. Amazon, Trip Advisor, Restaurants, Bücher, das neueste Auto oder der hippeste Rasierer ... alles muss geprüft und bewertet, zerrissen oder gelobt werden.
Aber Ärzte sind Menschen. Sie machen Fehler, sie senden Sympathie oder Antipathie. Auf Bewertungsportalen wird viel Zwischenmenschliches abgebildet, was immer abhängig ist von der Tagesform des Senders und des Empfängers. Ärzte sollten professionell handeln und ihre eigenen Sorgen und Ärger vor der Praxistür lassen. Aber wer kann das schon?
Also wird es auch Tage geben, an denen die Performance der Arztpraxis so ist und Tage, wo sie so ist. Da Bewertungen aber oft Reflexe sind, bilden diese vielfach Einzelerfahrungen ab. In der aktuellen Grippesaison beschweren sich in allen Praxen alle Patienten, dass telefonisch kein Durchkommen ist. Das kann man als Arzt mit etwas Empathie verstehen und als Patient darf man sich auch ärgern, wenn das eigene Kind gerade mit Ohrenschmerzen im Bett liegt. Aber ist das eine 6er Bewertung im Portal wert?
Ich persönlich habe ein dickes Fell, Bewertungen auf den einschlägigen Plattformen perlen ab. Trotzdem freuen mich positive Bewertungen naturgemäß mehr, als dass ich negative konstruktiv abarbeite. Mich ärgert, dass Patienten ungefiltert und ohne Nachweis bewerten dürfen. Und dass die Hürden zum Löschen von Bewertungen sehr hoch sind, bei Google sind sie sogar unüberwindbar.
Bei jeder schlechten Wertung bleibt ein sehr ungutes Gefühl zurück: Ich habe als Arzt und Profi insuffizient gearbeitet. Wenn der Eintrag zudem ungerechtfertigt, subjektiv oder kurzsichtig war, bleibt neben Ärger auch Verletzung zurück.
Mimimi.
Weiterführendes:
Qualitätsanforderungen für Ärzteportale (ein Pflichtenheft der BÄK und der KBV)
Stiftung Warentest zum Thema (bereits von 2011)
Ein Zeugnis für den Doktor (via Zeit-Online)
Bildquelle: Ivan Radic, Flickr