Anderswo werden Softdrinks besteuert, um den Zucker zu reduzieren. In Deutschland ist alles anders: Statt durchzugreifen, stellt Ministerin Klöckner ein Freundschaftsvideo mit dem Nestlé-Chef ins Netz. Zwei Ernährungsmediziner sagen, was sich ändern muss.
Derzeit macht sich die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft nicht gerade beliebt. Kürzlich twitterte sie zum Thema Zucker und erntete nur Spott und Hohn in sämtlichen Medien. Zu sehen ist eine Art Werbevideo, in dem Julia Klöckner den Deutschlandchef von Nestlé lobt. Darin geht es um die Umsetzung von Maßnahmen hinsichtlich der Zuckerreduzierung in Nahrungsmitteln. Als Konsument gewinnt man den Eindruck, es geht hier weniger darum, Nahrungsmittel gesünder zu machen, als um einen Weg, dies auf eine Weise zu tun, die einer harmonischen Zusammenarbeit mit der Lebensmittelindustrie nicht im Weg steht.
Quelle: BMEL auf Twitter
In welchem Ausmaß Lebensmittel künftig gesünder produziert werden, hängt anscheinend vom Engangement der Industrie ab, von politischer Seite darf man wohl nicht viel erwarten.
Das bedeutet, die Verantwortung liegt bei jedem einzelnen selbst, sich richtig zu ernähren. Und das schaffen viele nicht, wie die hohe Zahl an adipösen und diabeteskranken Menschen zeigt. In der Gesellschaft gibt es tatsächlich grundlegende Wissenslücken, bestätigen uns zwei Ernährungsmediziner. Was muss sich ändern? Wir sprechen darüber mit Dr. Matthias Riedl und Dr. Winfried Keuthage.
Ist gesunde Ernährung eine Art heiliger Gral? Für die breite Masse schon, findet Riedl. Deutsche Konsumenten machen sich falsche Vorstellungen von der richtigen Ernährung. Sie seien verwirrt, weil die Empfehlungen so widersprüchlich sind, erklärt der Ernährungsmediziner, Diabetologe und Facharzt für Innere Medizin. Das liege zum einen daran, dass nicht ganz so gesunde Produkte durch gezieltes Marketing als gesünder beworben würden.
Problematisch sei aber auch das verhängnisvolle Bestreben, die Lösung in der einen Methode finden zu wollen. „Einmal ist es die zuckerfreie Ernährung, dann die fettarme, dann ist es wieder Low-Carb, dann setzen auf einmal alle nur noch auf Intervallfasten. So funktioniert das nicht. Das alles sind lediglich Elemente einer guten Ernährung“, betont er.
Dr. Keuthage sieht noch ein zweites Grundproblem. Er beschreibt es als jene häufig verdrängte „Gesetzmäßigkeit, die durch nichts außer Kraft gesetzt wird: Der Körper soll nicht mehr zu sich nehmen, als er tatsächlich verbraucht.“ Diese einfache Regel ist vielen nicht bekannt. Der Allgemeinmediziner hat sich auf die Bereiche Diabetologie und Ernährung spezialisiert.
Zum Glück dienen nicht ausschließlich Diäten aus Magazinen und Zeitschriften zur Orientierung. Von 1992 bis 2005 war die Pyramide nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) Richtwert der ersten Wahl, mittlerweile ist sie einem Kreis gewichen. Dieser Ernährungskreis ist in sieben Lebensmittelgruppen aufgeteilt, diese werden auf der Website im Detail erläutert.
Ernährungspyramide und Ernährungskreis der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE)
So eindeutig die Abbildungen im ersten Moment wirken – eine solche Aufteilung kann für Verbraucher dennoch ein Nährboden für Missverständnisse sein. So werden beispielsweise 4-6 Scheiben Brot plus eine Portion Kartoffeln, Nudeln oder Reis als täglicher Richtwert angegeben.
Tatsächlich kann man sich auch ohne Brot problemlos gesund ernähren, der Körper ist nicht darauf angewiesen. Viele Verbraucher wissen das vermutlich nicht. Riedl wittert hier einen Einfluss der Lebensmittelindustrie: „Wir sind eine Brotnation und die vielen Bäcker in Deutschland wollen auch, dass das so bleibt. Deshalb wird auch in der Werbung die Brotlastigkeit gefördert.“
Ein weiteres Beispiel ist das Denken in Portionen: Angaben wie „mindestens 3 Portionen (400 g) Gemüse“ und „mindestens 2 Portionen (250 g) Obst“ wirken unrealistisch. In einem britischen Review ist sogar von zehn Portionen Obst und Gemüse als Tagesempfehlung die Rede. An einem Tag wären das also mindestens drei Portionen, wenn man Gemüse und Obst kombiniert, ansonsten fünf oder mehr. Das ist im Alltag schwer zu schaffen – und laut Riedl gar nicht notwendig. Ein Mittagessen, das etwa 300 Gramm Gemüse enthält, ist aus seiner Sicht ein ideales Gericht. Damit hätte man schon den größten Teil Gemüse konsumiert.
Pausen, in denen man nichts isst, seien wichtig, um das Immunsystem zu entlasten, sagt Riedl. Der gesellschaftliche Umgang mit Snacks sei allerdings liebevoll und großzügig – besonders bei Naschereien. Ein Gräuel ist Riedl hier die Werbung, weil sie ungünstige Verhaltensweisen fördert. „Die Verbindung von Süßigkeiten und Glück widert mich an, weil die Traurigen gelockt werden sollen.“ Für Süßigkeiten solle es am besten gar keine Werbung geben. „Dieses pausenlose Essen führt zu einem hohen Insulinspiegel. Das Immunsystem ist immer auf Hochbetrieb, weil es sich damit beschäftigen muss, was man gerade isst.“
Welche Ratschläge kann man als Allgemeinmediziner nun an seine Patienten weitergeben, ohne sie zu verwirren? Die wichtigste Faustregel von Riedl: 500 Gramm Gemüse täglich. Damit legt er im Vergleich zum Orientierungswert der DGE sogar noch 100 Gramm drauf. Auch Nüsse und Pilze rechnet er hier dazu. Ein gesunder Mensch könne sich auch 300 Gramm Gemüse pro Tag erlauben.
In Schulbüchern, Informationsblättern oder der Werbung wird immer von Obst und Gemüse gesprochen, als wäre es eine untrennbare Einheit. So entsteht beim Verbraucher der Eindruck, die beiden Lebensmittelgruppen wären gleich wichtig. Aus Riedls Sicht sind sie das aber nicht. Gemüse bekommt bei ihm klar den Vortritt, im Gegensatz zu Obst ist es unverzichtbar. Auch Obst enthält Vitamine, Spurenelemente und sekundäre Pflanzenstoffe, allerdings auch viel Zucker – Trauben zum Beispiel um die 18 Prozent.
An der Stelle erzählt Riedl von britischen und australischen Zoo-Affen. Im Vorjahr berichteten Zeitungen über die Maßnahme in Zoos, den Affen weniger Obst zu geben. „Das Problem ist, dass das für den Menschen gezüchtete Obst viel mehr Zucker enthält als wilde Früchte,” sagt Dr. Michael Lynch, der leitende Tierarzt des Melbourne Zoos. „Die Tiere mit diesem Obst zu füttern, ist wie sie mit Kuchen oder Schokolade zu füttern,“ heißt es auf der Website des Paignton Zoos im britischen Devon. Die Folge war ein Anstieg der Zivilisationskrankheiten. Die Affen litten etwa vermehrt unter Fettleibigkeit oder Zahnerkrankungen. Der Obstkonsum wurde seither deutlich reduziert und der Gemüseanteil erhöht. „Das hat dazu geführt, dass die Tiere ruhiger und in der Gruppe friedlicher sind“, erklärt ein britischer Zoomitarbeiter. Hier gehe es nicht darum, Obst schlecht zu reden, denn in Maßen seien Früchte durchaus empfehlenswert: „Obst ist gesund, aber Gemüse ist noch wichtiger“, betont Riedl.
Wenn es um Lebensmittel wie Olivenöl, Kaffee oder Wein geht, folge ein Hype auf den anderen, um diese Produkte in einem möglichst gutem Licht zu präsentieren. „Das bequemste wird umgesetzt“, ist Riedls Eindruck. Außerdem stehe hinter all diesen Produkten eine sehr bemühte Industrie. „Gemüse hat hingegen keine Lobby, das ist ein Problem.“
Auch in der Gastronomie spiele Gemüse eine eher untergeordnete Rolle. „Wenn überhaupt, kann ich im Restaurant mit 100-150 Gramm Gemüse auf dem Teller rechnen. Wenn man dem Koch beim Urlaubsbuffet sagt, man wolle 300 Gramm Gemüse, fragt der drei Mal nach, ob man sicher sei.“
Auch wenn das Thema gesunde Ernährung so präsent sei wie nie, in der Realität seien die meisten eher bemüht als konsequent. „Der deutsche Mann isst im Schnitt 112 Gramm und die Frau 129 Gemüse pro Tag“, gibt er zu bedenken und bezieht sich dabei auf die Nationale Verzehrsstudie II.
Ein bestimmter Nährstoff liegt ihm besonders am Herzen, denn er wird von den Deutschen extrem vernachlässigt. Es geht um Ballaststoffe. Etwa 90 Prozent der Menschen erreichen den benötigten Ballaststoffanteil pro Tag nicht. Ballaststoffe sind besonders reichlich in Obst, Getreide und Gemüse enthalten. Man unterscheidet zwischen löslichen und unlöslichen, beide erfüllen unterschiedliche Aufgaben im Körper und werden täglich benötigt. In Vollkornprodukten sind unlösliche Ballaststoffe enthalten, in Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten lösliche.
Beworben werden Ballaststoffe oft nur in Verbindung mit Getreideprodukten und noch öfter in den „falschen“ wie etwa Knusperflakes, Loops oder ähnlichen Kindercerealien. Diese enthalten zwar Ballaststoffe, aber nicht besonders viel. Bei einer 50-Gramm-Portion kommt man bei den klassischen Produkten auf keine zwei Gramm.
Getreide ist ein guter Ballaststofflieferant, in Gebäck aus raffiniertem Weizenmehl wie in Brötchen oder Baguette sind aber nurch noch halb so viele Ballaststoffe enthalten wie in Vollkornbrot. Dieses Wissen wird der breiten Masse nicht vermittelt.
Nicht nur in Kontakt mit Patienten hat der Ernährungsexperte Aufklärungsarbeit zu leisten, auch bei vielen seiner Kollegen aus anderen Fachbereichen. „Hausärzte, Allgemeinmediziner, ich erzähl ihnen das gleiche wie den Patienten. Neulich meinte ein Kardiologe: ‚Das funktioniert ja wirklich.‘“ Er hätte nicht erwartet, dass sich eine ideale Ernährungsweise so positiv auf den Gesundheitszustand seiner Patienten auswirke.
Man müsse allerdings realistisch bleiben, sagt Riedl: „Ernährung kann man nicht in 10 Minuten erklären. Als Arzt hat man pro Patient aber sogar noch viel weniger Zeit. Zwischen 70 und 80 Prozent der Patienten sind zu dick. Da kommt ein Hausarzt mit dem Informieren nicht hinterher.“
Um Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Adipositas in den Griff zu bekommen, ist es aber wichtig, dass die Gesellschaft lernt, wie man sich gut ernährt. Also müssen die Rahmenbedingungen für Ärzte verbessert werden, findet der Experte.
Wichtig ist auch, mit seinen Patienten über Erwartungen zu sprechen, findet Keuthage. Denn: Übergewicht lasse sich nicht verhandeln. „Wo möchten Sie hin, frage ich meine Patienten immer. Die Antwort ist leider oft so etwas wie: ‚30 Kilo weniger‘ oder ‚Idealgewicht‘. Das ist fatal, weil man mit dieser Antwort Erwartungen verbindet, die meistens zum Scheitern verurteilt sind.“
Das liege daran, dass durch eine verminderte Energiezufuhr, etwa um 500 Kalorien pro Tag, eine Gewichtsabnahme erreicht wird, die bei 10-15 Prozent des Ausgangsgewichts liegt. Denn der Körper ist dazu in der Lage, den Grundumsatz und Leistungsumsatz zu senken. Wenn es mit dem Abnehmen dann nicht weiter geht, entsteht bei Patienten oft Frust und sie essen wieder mehr – der bekannte JoJo-Effekt. „Dieser Mechanismus ist schwer zu vermitteln. Deswegen braucht man dafür etwas Zeit mit den Patienten“, weiß der Mediziner aus der Praxis.
Ernährungsmedizin muss politisch sein, fordert Riedl. „Unsere Politik schützt uns nicht genug. Vor allem unsere Kinder“, findet Keuthage. „Durch die Fridays for Future wird das für das Thema Klimawandel deutlich, das gleiche Problem haben wir aber auch bei Ernährung. Es geht vorwiegend um die Interessen der Industrie“.
Was den Kampf gegen Zivilisationskrankheiten betrifft, kann man nicht alles den Ärzten überlassen, findet Keuthage. Manchmal müsse eben regulativ durchgegriffen werden, um etwas zu bewegen: „Die Tabaksteuer wurde auch sehr widerwillig eingeführt. Gewirkt hat sie trotzdem.“
Welche Maßnahmen würden sich die Ernährungsmediziner von der Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft wünschen, wenn sie könnten? Die zwei Ärzte kommen auf insgesamt sechs Punkte:
In welcher Form auch immer, Riedl fordert eine einheitliche Kennzeichnung der Nahrungsmittel: „Eine schlechte Kennzeichnung ist immer noch besser als keine.“ Die Kennzeichnung soll einfach sein und auf allen Lebensmitteln in Supermarkt und beim Bäcker abgebildet sein. Keuthage bevorzugt den Nutri-Score, der in anderen EU-Ländern bereits staatlich empfohlen wird, dessen Einführung hierzulande aber unterbunden wurde. Keuthage: „Wozu einen deutschen Score erfinden, wenn es schon welche gibt? Das riecht nach Lobbyismus.“
Beide Experten sind für die Einführung einer Lenkungssteuer. So sollen etwa unnötig verzuckerte Getränke besteuert werden. Keuthage: „Wir regulieren so vieles mit der Mehrwertsteuer – ob man zum Beispiel eine Currywurst zum Mitnehmen oder im Restaurant bestellt. Dann kann man das doch auch bei Lebensmitteln tun.“
Nicht nur das: Gesunde Lebensmittel sollten ihrer Meinung nach für die Verbraucher weniger kosten: „Gemüse, Wasser, Nüsse, alles, was zweifellos gesund ist, sollte man im Idealfall von der Steuer befreien“, so Riedl.
Riedl spricht sich außerdem für ein eigenes politisches Ressort für Ernährung aus. „Man muss Klöckner das Thema Ernährung wegnehmen und es dem Gesundheitsministerium geben,“ fordert er. Im Fokus sollen nicht wirtschaftliche Faktoren, sondern die Gesundheit der Bevölkerung stehen.
Adipositas muss von allen als Erkrankung anerkannt werden, auch von den Krankenkassen, fordert Keuthage. „Ihr könnt euch da nicht aus der Verantwortung ziehen“, mahnt der Arzt.
Als letzten Punkt weist Keuthage darauf hin, wie unterschiedlich die Therapieangebote in den Bundesländern sein können. „Patienten in Bayern werden zumindest punktuell ganz anders behandelt als zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen“, kritisiert er und fordert flächendeckende und einheitliche Therapieangebote. „Immer kommt man mit konservativen Methoden nicht weiter. Die Magenverkleinerung ist in bestimmten Fällen ein sinnvoller und notwendiger Eingriff. Egal in welchem Bundesland, Patienten müssen die Möglichkeit haben, diese OP zu erhalten.“
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