Der Mikrobiom-Hype macht auch vor psychischen Krankheiten nicht halt. Ein fehlbesiedelter Darm soll sogar Schizophrenie verursachen. Stuhltransplantationen und Probiotika sollen das Problem lösen. Warum ich nicht viel davon halte.
Das Darmmikrobiom scheint der Schlüssel zur Erklärung aller Erkrankungen zu sein. So ist zumindest der Eindruck, wenn man in Fachjournalen über die neusten Ergebnisse der Mikrobiomforschung liest. Immerhin soll ein fehlbesiedelter Darm nicht nur an Übergewicht, sondern auch an zahlreichen Erkrankungen wie Diabetes, Depression und Schizophrenie ursächlich beteiligt sein. Die Manipulation des Mikrobioms mit Probiotika oder Stuhltransplantationen soll neue vielversprechende Ansätze für Therapien liefern. Doch so leicht lassen sich komplexe Krankheiten nicht erklären – und schon gar nicht heilen. Ich habe mir einige Studien genauer angeschaut. Und sehe den Mikrobiom-Hype kritisch.
In Mausmodellen klappt die Manipulation des Mikrobioms schon ganz gut. Verpflanzt man ängstlichen Mäusen die Darmbakterien von mutigeren Tieren, werden diese furchtloser. In einer anderen Studie hatten Forscher das Mikrobiom von Schizophrenie-Erkrankten in keimfreie Mäuse transferiert. Es zeigten sich im Vergleich zu den Kontrollmäusen tatsächlich schizophrenierelevante Symptome – soweit man bei Mäusen davon sprechen kann. Die Zusammensetzung der Darmbakterien scheint also unmittelbaren Einfluss auf die Psyche der Tiere zu nehmen.
Doch so verlockend diese Ergebnisse auch klingen, es handelt sich erstmal nur um Mausmodelle mit einer überschaubaren Anzahl von Tieren. Das kann zwar ein Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang sein, doch die Frage ist, inwieweit sich die Psyche von Mäusen auf den Menschen übertragen lässt.
Auch beim Menschen sollen Darmbakterien ein entscheidender Faktor für die psychische Gesundheit sein. In einer flämischen Studie beispielsweise haben Wissenschaftler einzelne Gruppen von Bakterien identifiziert, deren Vorkommen im Darm mit einem erhöhten oder erniedrigten Risiko für Depressionen einhergeht. Grundlage dafür war die Kohorte aus dem Flemish Gut Flora Project (FGFP) mit 1054 Probanden, deren Darmflora mittels Genom-Analyse untersucht wurde. Die Teilnehmer sollten per Fragebogen Auskunft über ihre Lebensqualität geben. Zusätzlich erhielten die Forscher ärztliche Befunde über psychische Störungen.
Wie sich herausstellte, ist die Anzahl von Bakterien der Gattung Coprococcus und Dialister bei Probanden mit diagnostizierter Depression niedriger als bei Personen, die nicht an einer Depression leiden. Auch bei der Einnahme von Antidepressiva blieb dieser Zusammenhang bestehen. Probanden, die mit Antidepressiva behandelt wurden, wiesen darüberhinaus mehr Butyricicoccus-Bakterien auf. Gleichzeitig erreichten Personen, die eine höhere Zahl der Gattungen Coprococcus und Faecalibacterium aufwiesen, einen höheren Score im Fragebogen. Sie stuften ihre Lebensqualität also höher ein als Vergleichsprobanden. Bei einer weiteren Kohorte bestehend aus 1063 Probanden konnten die Ergebnisse bestätigt werden.
Doch Assoziationen beweisen eben keinen kausalen Zusammenhang. Das sagen auch die Autoren der Studie. Immerhin könnte der Mangel dieser Bakterien auch die Folge der Depression sein. Trotzdem scheint die Lösung des Problems auf der Hand zu liegen: Man könnte das fehlbesiedelte Mikrobiom bei psychisch kranken Patienten doch einfach mit den passenden Bakterienkulturen in Form bringen und damit die Erkrankung heilen. Oder?
Denkbar wären dabei drei mögliche Anwendungen: Die Stuhltransplantation, Probiotika oder Präbiotika, also unverdauliche Stoffe, die bestimmte Bakterien zum Wachsen anregen sollen.
„Bei bestimmten Magen-Darm-Erkrankungen ist der Einsatz von Stuhltransplantationen sinnvoll und das wird im Rahmen von klinischen Studien auch schon gemacht, zum Beispiel bei Infektionen mit Clostridium difficile“, sagt Prof. Alexander Loy, Mikrobiologe an der Universität Wien. „Bei psychischen Erkrankungen ist man davon aber noch sehr weit entfernt“.
Zudem sollte man mögliche Risiken von Stuhltransplantationen nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ein immungeschwächter Patient ist nach dem Erhalt einer Stuhltransplantation verstorben, ein weiterer Patient ist schwer erkrankt. Das gab die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA vor wenigen Tagen in einer Sicherheitswarnung bekannt. Die beiden betroffenen Patienten hatten die Stuhltransplantation vom gleichen Spender erhalten. Im Transplantat waren E.coli-Bakterien nachweisbar, die gegen verschiedene Antibiotika resistent waren. In der Sicherheitswarnung verweist die FDA darauf, dass eine Stuhltransplantation mit dem Risiko schwerwiegender Infektionen mit multiresistenten Organismen assoziiert sein kann.
Bei Probiotika gibt es – zumindest in Tiermodellen – erste Hinweise, die einen positiven Nutzen bei psychischen Erkrankungen zeigen. Die orale Gabe von Lactobacillus rhamnosus JB-1 konnte bei sozial gestressten Mäusen Angsstörungen verbessern. Trotz präklinischer Erfolge war L. rhamnosus bei gesunden Erwachsenen allerdings wirkungslos was die subjektive Stressempfindsamkeit, Aktivierung der HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse), Kognition oder Immunreaktionen angeht.
Eine andere Studie zeigte bei menschlichen Probanden wiederum positive Effekte nach der Einnahme von Bifidobacterium longum 1714. Bei den 22 gesunden Teilnehmern konnte das subjektive Stresslevel und die stressinduzierte Cortisol-Ausschüttung gesenkt sowie die Gedächtnisleistung verbessert werden. Allerdings muss man hier auf die kleine Teilnehmeranzahl hinweisen, was die Aussagekraft schmälert.
Obwohl noch zahlreiche Fragen offen sind, darunter z.B. wie genau diese Bakterien wirken und welche Dosierung die richtige ist, schlagen Unternehmen schon jetzt Geld aus den Erkenntnissen. Hersteller verkaufen Probiotika, die sich günstig auf die Psyche auswirken sollen als sogenannte Psychobiotika.
Ob sich mit solchen speziellen Probiotika wirklich psychische Erkrankungen behandeln lassen, bezweifle ich stark. Die derzeitige Studienlage zu dem Thema ist mehr als durchwachsen. Selbst der Nutzen von „normalen“ Probiotika ist umstritten. Für mehr Aussagekraft bräuchte es zunächst einmal mehr großangelegte klinische Studien. Doch wie soll die Beeinflussung der Psyche durch Darmbakterien überhaupt funktionieren?
„Man vermutet, dass die Bakterien durch die Produktion von neuroaktiven Substanzen und anderen Metaboliten wie kurzkettigen Fettsäuren und Zytokinen das zentrale Nervensystem direkt beeinflussen können“, erklärt Prof. Alexander Loy.
„Inzwischen weiß man zum Beispiel auch, dass die Verbindung zwischen Darm und Hirn keine Einbahnstraße ist. Dass es eine gegenseitige Beeinflussung vom Mikrobiom und Nervensystem gibt, steht also außer Frage,“ ergänzt Loy. „Doch wie relevant oder signifikant dies bei der Entstehung von Krankheiten ist, das ist noch weitgehend unklar.“
Auch in anderen Bereichen werden die Erkenntnisse der Mikrobiomforschung benutzt, um Geld zu machen. Unternehmen und Labore bieten an, die eigene Darmflora per Stuhlprobe analysieren zu lassen, um der Ursache von verschiedenen Beschwerden auf den Grund zu gehen. Mit den Ergebnissen erhält man neben Ernährungs- und Handlungsempfehlungen natürlich auch Kaufempfehlungen für Supplemente – alles ohne Besuch beim Arzt. Die Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) rät zurecht von solchen Analysen ab. Diesen fehle derzeit die wissenschaftliche Grundlage, warnen die Experten der Fachgesellschaft.
Stuhltests zur Analyse der Darmflora sind derzeit eben nicht viel mehr als ein lukratives Business. Für Patienten ist das Verfahren nicht besonders aufschlussreich. Zwar haben Stuhltests beispielsweise bei der Darmkrebsvorsorge oder C.-difficile-Infektion einen festen Platz. „Eine Analyse der Spektrums der Mikroorganismen im Darm ist allerdings weitgehend sinnlos, da die Zusammensetzung des Mikrobioms und eventuelle Krankheitssymptome nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben“, wird Prof. Stefan Schreiber, Direktor der Klinik für Innere Medizin I des Kieler Universitätsklinikums in der Pressemitteilung zitiert.
Dass die Mikrobiomforschung in den letzten Jahren rasant gewachsen, liegt wohl auch an wirtschaftlichen Interessen, die dahinter stecken. Doch von echten klinischen Anwendungen wie der Manipulation des Mikrobioms ist man noch weit entfernt. Dazu müsste man wissen, was ein gesundes Darmmikrobiom überhaupt ausmacht. Warum ist das so schwer herauszufinden?
„Das eine gesunde Mikrobiom gibt es nicht. Die Bakterienzusammensetzung verändert sich ständig, passt sich an die Ernährung des Wirts und an andere Umwelteinflüsse an“, sagt Prof. Loy. „Das Problem ist, dass das Ökosystem im menschlichen Darm höchst komplex und von Mensch zu Mensch verschieden ist. Außerdem hat man noch lange nicht alle Darmbakterien identifizieren können“, so Loy weiter.
Diesen Umstand macht eine aktuelle Studie deutlich. Sie zeigt, dass einzelne Bakterien im Darm eines Individuums immer weiter mutieren und sich zu unterscheidbaren Subpopulationen aufspalten. Die Forscher beobachteten, dass über die Zeit meist Gene mutierten, die eine Rolle bei der Interaktion der Keime mit Umwelteinflüssen spielen. Andere betroffene Gene interagieren offenbar mit dem Immunsystem des Wirts. Der Mensch selbst und sein Verhalten haben demnach einen enormen Einfluss auf die Bakteriengemeinschaft und nicht nur das Mikrobiom auf den Wirt. Wenn sich die Zusammensetzung der Bakterien in unserem Darm also ständig verändert und anpasst, ist es dann überhaupt sinnvoll beziehungsweise möglich, das Mikrobiom genau zu charakterisieren?
Völlig umsonst ist das Bestreben nicht, sagt der Experte. Aber es gebe noch problematische Wissenslücken. „Man hat schon einen Erkenntnissgewinn, wenn man weiß, welche Bakterienarten den menschlichen Darm bewohnen und möglicherweise krank machen“, erklärt Prof. Loy. „Doch leider ist es uns mit den gängigen Methoden zur Mikrobiombestimmung noch nicht möglich die Bakterienstämme genau auseinanderzuhalten“, sagt der Mikrobiologe. „Mit der Standardmethode, der 16S-rRNA-Sequenzanalyse können wir zum Beispiel nicht herausfinden, ob es sich beim vorliegenden Escherichia-Coli-Stamm um die harmlose oder pathogene Variante handelt.“
Prof. Loy erklärt, worauf es bei der Mikrobiomforschung eigentlich ankommt: „Wichtiger ist es, die Funktion der Darmbakterien aufzuklären.“ Bei über der Hälfte der Gene der gefundenen Darmbewohner kenne man noch gar nicht deren Funktion. Eine Funktion nachweisen bedeutet vor allem, die Stoffwechselprodukte der Mikroben sowie deren Synthesewege zu kennen und zu analysieren.
Die Forscher der eingangs erwähnten flämischen Studie taten dies, indem sie 56 Gene ausfindig machten, die die Produktion oder den Abbau von neuroaktiven Substanzen steuern. Das sind beispielsweise der Neurotransmitter Gamma-Aminobuttersäure (GABA) oder 3,4-Dihydroxyphenylessigsäure (DOPAC), ein Metabolit des Dopamins.
Studien wie diese sind laut Loy richtungsweisend für die Mikrobiomforschung. In Zukunft wird sich die Forschung aber noch sehr viel mehr mit dem Metabolom befassen müssen, vermuten Wissenschaftler. So nennt man die gesamte Stoffwechselleistung eines Organismus. Dieses könnte der sensibelste Indikator für krankheitsbedingte Prozesse im Zusammenhang mit dem Darmmikrobiom sein und derzeitige Wissenslücken schließen.
Denn allgemeine mikrobielle Stoffwechselleistungen, wie die Fermentation, werden von jedem Darmmikrobiom vollbracht. Aber die Anteile der bakteriellen Arten, die einen Menschen besiedeln, unterscheiden sich von Mensch zu Mensch. Somit sind auch speziellere Fähigkeiten des Darmmikrobioms, wie der Metabolismus von neuroaktiven Substanzen wie GABA oder DOPAC von Mensch zu Mensch verschieden. Diese Substanzen sind es, die den Wirt direkt beeinflussen.
Aufgrund der Masse an wissenschaftlichen Arbeiten über das Mikrobiom kann man schnell den Eindruck gewinnen, dass man eindeutige Aussagen über den Zusammenhang von Mikrobiom und Krankheit treffen kann. Doch weder sind kausale Zusammenhänge bewiesen, noch wissen wir was ein „gesundes“ Mikrobiom überhaupt ist. Noch bezweifle ich, dass man in naher Zukunft aus den Erkenntnissen der Mikrobiomforschung Therapien entwickeln kann. Die Forschung auf diesem Gebiet hat schließlich gerade erst begonnen.
Bildquelle: Leonardo Aguiar, flickr