Der Großstadtarzt hat sein Urteil längst gefällt: Eine Praxis auf dem Land? Niemals. Dann kennt dich doch jeder, mit der Freizeit ist es vorbei. Fünf Vorurteile über das Landleben – und was an ihnen dran ist.
Nachdem ich in einem anderen Beitrag bereits darauf eingegangen bin, dass das Landarztleben durchaus Tücken und Schwierigkeiten mit sich bringt, möchte ich nun mit ein paar gängigen Vorurteilen, die über das Landleben herrschen, aufräumen.
Wenn ich erzähle, dass ich auf dem Land lebe und auch dort in einer Praxis arbeite, kommen sehr häufig die gleichen Sprüche.
Das ist Ansichtssache. Stimmt, das nächste Kino hat ca. 30 Minuten Anfahrtszeit. Theaterstücke gibt es auch eher selten, nämlich einmal im Jahr das Weihnachtsmärchen für die Kinder in der Adventszeit. Andererseits habe ich für Theater oder Kino mit drei relativ kleinen Kindern und meinem Job eh momentan nur selten Zeit – und dann fällt die halbe Stunde Anfahrt auch nur noch begrenzt ins Gewicht. Die hat man je nach Wohnung in der Stadt nämlich auch.
Abendliche Aktivitäten im Bereich Sport oder Zusammensein (z.B. Chöre oder Musikgruppen) gibt es hier auch so einige. Und wenn was fehlt: Selbst gründen. Begeisterungsfähige Leute gibt es hier viele. Und so sind bei uns in den letzten Jahren auch so einige Gruppen entstanden.
Jein – das kommt auf die Dorfgröße an. Aber ja, ich gehe nicht einkaufen, zum Sport oder auf größere Veranstaltungen, ohne Patienten zu treffen. Wobei ich als Kind eines Hausarztes in einer Großstadt aufgewachsen bin, da war es genauso. Jeder kannte meinen Vater und in gewisser Weise damit auch uns. Im Vergleich zu dem, woran ich mich von früher erinnere (Stichwort „Stop-and-Go beim Familieneinkauf“), ist der Respekt vor der ärztlichen Privatsphäre eher größer geworden. Die Leute grüßen mich, ja, vielleicht auch ein „Hallo“ oder „Guten Tag, Frau Landärztin“, aber mehr auch nicht. Selbst wenn man ins Gespräch kommt, dreht es sich in den allermeisten Fällen nicht um Medizinisches, sondern um das Event, auf dem man gerade ist. Und damit kann ich gut leben. Hier geht das nämlich vielen so: Dem Elektriker, dem Maler, dem KFZ-Werkstattsbesitzer – die kennt hier jeder. Und daher wissen die meisten auch, wie blöd sich das anfühlt, wenn man die ganze Zeit auf seinen Beruf angesprochen wird. Deswegen lassen sie es meistens einfach. Natürlich gibt es immer Ausnahmen, aber im Großen und Ganzen sind mir hier bisher weniger Grenz-Überschreitungen vorgekommen als in der Krankenhaus-Zeit in der Stadt.
Dieses „Jeder kennt jeden“-Prinzip hat auch definitiv seine Vorteile: Die Leute halten zusammen und passen besser aufeinander auf als ich das in der Stadt kennengelernt habe. Egal ob Unwetter, persönliche kleine oder große Katastrophen, Mit-dem-Laufrad-weggedüste-Kinder, die fehlende Bohrmaschine – auf dem Dorf ist meistens jemand da, der aushilft. Meistens sehr schnell und sehr unbürokratisch. Interessanterweise nicht nur bei den „Heimischen“, auch in der Flüchtlingskrise wurde einfach geholfen. Von Mensch zu Mensch und religionsübergreifend.
Womit wir beim nächsten Punkt wären.
Das kann ich definitiv nur unterschreiben. Wir haben natürlich auch viele ältere Patienten, die manchmal nicht mehr fahren dürfen. Da der öffentliche Personennahverkehr leider fürchterlich ist, müssen also oft die Nachbarn helfen. Die machen das im Notfall auch mehrmals pro Woche oder zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten. „Das muss ja gemacht werden“, sagen die Menschen. In der Stadt hatte ich oft das Gefühl, dass die Leute ihre Nachbarn nicht mal kennen – geschweige denn auf die Idee gekommen wären, denen ihre Hilfe anzubieten.
Den Pragmatismus merke ich auch oft in der Praxis: Kein langes drum herumreden, die meisten Patienten kommen recht schnell zum Punkt. Vor allem, wenn das Wartezimmer voll ist. Nach dem Motto: „Damit die anderen nicht so lange warten müssen, fasse ich mich auch kurz.“ Ein weiterer Pluspunkt: Wenn man den Patienten erklärt, warum man etwas macht, habe ich auch das Gefühl, dass sie wirklich extrem bemüht sind, das Besprochene umzusetzen. Das hab ich in der Stadt nicht so stark empfunden.
Auch ein definitives „Ja!“ von mir. Das ist einerseits total schön, weil man es im Notdienst meistens wirklich nur mit Notfällen zu tun hat. Und nicht mit „Ich hab das seit 3 Monaten und wollte das jetzt mal abklären“, wie ich es aus der Stadt noch gut kenne. Deswegen kommen auch nachts im Notdienst nur wenige Anrufe. Und die leitet man zu fast 90 % dann direkt an die 112 weiter. Denn wenn ein Landmensch in der Nacht anruft, weil es ihm schlecht geht, ist das auch eigentlich nie etwas, was man ambulant regeln kann. Vor allem in Anbetracht der Anfahrtszeit von mindestens 25 Minuten für die meisten Hausbesuche. Einige Beispiele: Kardiale Beschwerden bei einem 80-jährigen KHK-Patienten, Bewusstlosigkeit bei einer bekannten Diabetikerin, etc.
Was mir aber stattdessen schon passiert ist: Ein Patient ruft mich im Notdienst morgens um 9:30 Uhr an, weil er mit Atemnot im Sessel sitzt (Sauerstoffsättigung zwischen 90 und 92%). Und das seit 3:30 Uhr! Er wollte mich aber nicht wecken oder belästigen, deswegen hatte er gewartet, bis er glaubte, dass ich mit dem Frühstück fertig sei. Ich habe ihm dann erstmal erklärt, dass er für sowas jederzeit anrufen kann, auch nachts, aber er konnte sich kaum vorstellen, jemandem mit so etwas „zur Last zu fallen“.
Eine kurze Anmerkung hier: Natürlich gibt es diese oben beschriebene Art von Patienten auch in der Stadt. Ich habe aber im Vergleich die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Eigenschaften in der Stadt oder auf dem Land häufiger auftreten. Darauf beziehe ich mich hier.
Die Kehrseite dieser Zähigkeit ist, dass man gerade am Anfang aufpassen muss, seine Patienten nicht zu harmlos einzuschätzen. Mein Chef meinte anfangs mal zu mir „Wenn die Leute hier in die Praxis kommen, ist das ein diagnostisches Kriterium“. Will sagen: Die kommen normalerweise nicht für Lappalien. Wenn sie kommen, geht es ihnen dreckig. Das ist auch gerade mit neuen Ärzten im Krankenhaus, die aus der Stadt wechseln, manchmal ein Problem. Die Stadt-Ärzte müssen sich erst daran gewöhnen, dass das „leichte Ziehen im Bauch“ auch schon mal eine eingeklemmte Hernie oder ein Ileus sein kann.
Das höre ich immer wieder, kann es aber so nicht bestätigen. Ich wurde vor acht Jahren, als wir hergezogen sind, sowohl in dem Dorf, in dem ich arbeite, als auch in dem Dorf, in dem ich wohne, offen empfangen. Klar, wenn man hier Zugezogene mitbekommt, die den „Dörflern“ direkt erstmal zu verstehen geben, dass sie hinter dem Mond wohnen und sie als Zugezogene nur hier wohnen wollen, weil es in der Stadt so teuer ist, sind Spannungen vorprogrammiert. Wenn man aber zeigt, dass man hier wirklich leben und nicht nur schlafen will, habe ich bisher die Erfahrung gemacht, dass einen die Landbevölkerung mit offenen Armen aufnimmt.
Die für mich größte Schattenseite hier ist aus medizinischer Sicht die hohe Dienstbelastung. 365 Tage im Jahr müssen verteilt werden, bei weniger Ärzten sind das eben mehr Dienste. Und man muss mehr „aushalten“ können, weil die Spezialisten nicht so einfach greifbar sind wie in der Stadt. Andererseits ist es genau deswegen auch ein sehr vielfältiges Arbeiten.
Ein weiteres und absolut nicht wegzudiskutierendes Problem ist der öffentliche Personennahverkehr. Der ist katastrophal und ohne Auto geht hier wenig.
Ansonsten nervt es manchmal, dass man beim Einkaufen nicht immer vor Ort das bekommt, was man sucht. Obwohl die Läden hier echt eine Menge möglich machen und bestellen, wenn man etwas Vorlaufzeit gibt. Aber naja, das sind echt Luxusprobleme und schränken mich nicht ernsthaft ein.
Deswegen kann ich nur raten: Geben Sie dem Land eine Chance. Die Leute sind toll, von der Landschaft ganz zu schweigen. Ja, man muss sich sicherlich umgewöhnen, aber es lohnt sich.
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