Falsche Medikamenteneinnahme fordert jährlich mehr Todesopfer als der Straßenverkehr. Mangelnde Therapietreue belastet zudem das Gesundheitssystem. Kerstin Hinck wollte das ändern. Aus der PTA wurde eine Unternehmerin, der die Compliance besonders am Herzen liegt.
„Früher stand ich häufig vor meiner Oma und habe die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: Da müssen fünf verschiedene Medikamente eingenommen werden und L-Thyroxin wird dann einfach mal mit einem Milchkaffee eingenommen, das beeinträchtigt die Wirkung ja immens“, erklärt Hinck ihre Sorge um die vielen Fehler, die bei der Einnahme von Medikamenten unterlaufen können. Laut Elsevier Health Analytics gibt es 20.000 Tote im Jahr, die an eigentlich vermeidbaren Arzneimittelnebenwirkungen – häufig im Zusammenhang mit Wechselwirkungen – sterben. Aber selbst, wenn Fehler in der Medikamenteneinnahme nicht immer unweigerlich zum Tod führen, so haben sie doch in vielen Fällen verheerende Folgen: „Einige Medikamente wirken ja erst nach zwei Wochen, werden aber zu früh wieder abgesetzt, der Patient bleibt krank und läuft wieder zum Arzt“, so Hinck. Die Kosten, die Laut IMS Health auf mangelnde Therapietreue zurückzuführen sind, belaufen sich jährlich auf 19 Milliarden Euro. „Von Antibiotikaresistenzen, die sich durch ein Behandlungsabbruch ergeben können, mal ganz zu schweigen“, so Hinck weiter. Kerstin Hinck, PTA und Unternehmerin © Apothekengeflüster
Vieles könnte verhindert werden, wenn man den Apothekenkunden nur ein paar wichtige Hinweise mit nach Hause geben würde. Das dachte sich Kerstin Hinck schon vor mehr als zehn Jahren. Damals war sie für ein Praktikum auf einer Farm in Kanada. Über Bekannte durfte sie ein paar Tage in die kanadische Apothekenwelt „schnuppern“. Wie in Nordamerika üblich, gab es auch dort individuell auf die Patienten abgestimmte Aufkleber auf den Medikamenten, die die Dosis und sonstige wichtige Hinweise enthielten. Diese Idee fand Hinck genial und einfach zugleich. „Ich habe mich immer wieder gefragt, warum das niemand in Deutschland macht.“ Auf der Suche nach einer logischen Erklärung dafür, hielt sie Ausschau nach rechtlichen Einschränkungen, die solche Sticker in Deutschland verbieten würden. Hinck recherchierte in Leitlinien von Apothekenkammern und anderen wichtigen pharmazeutischen Instanzen. In keiner der Leitlinien konnte sie ein Verbot entdecken – im Gegenteil: „Eigentlich ist in allen Fällen sogar ausdrücklich gewünscht, dass man den Patienten Informationen in schriftlicher Form mitgibt.“ Ungläubig beobachtete sie in der Folge mehrere Jahre lang den Markt. Schon als Kind hegte Hinck eine Leidenschaft für gesundheitliche Themen aller Art und entschied sich für eine Ausbildung zur PTA. Als sie den schulischen Teil der Ausbildung abgeschlossen hatte, zog sie 2003 nach Hamburg und arbeitete dort in einer Apotheke mit internationalem Großhandel. Neben dem Interesse an gesundheitliche Themen entwickelte sie dort auch eine Vorliebe für betriebswirtschaftlichen Abläufe. Nach fünf Jahren in der Apotheke sollte es etwas neues sein und Hinck wechselte in ein Pharmaunternehmen. Zuerst arbeitete sie dort im internationalen Wirkstoffvertrieb, anschließend als Produktmanagerin. Parallel zur Arbeit absolvierte sie ein BWL Studium. Aber eigentlich zog es sie immer zurück ins Rheinland, zurück in die Heimat und zurück zur Idee, die schon lange in ihr reifte. Originalsticker aus der kanadischen Apotheke
Nach sechs Jahren in der Industrie hatte Hinck das Startbudget für eine eigene Existenzgründung zusammen. Also kündigte sie ihren Job, nahm sich ein Büro in Köln und gründetet im Sommer 2014 ihr eigenes Unternehmen. Seit eineinhalb Jahren vertreibt „Apothekengeflüster“ wichtige, individuell auf den Kunden abgestimmte Hinweise, die in Form von kleinen Stickern auf die Medikamentenverpackung geklebt werden können. „Ein ganz klassisches Beispiel ist die Einnahme von Pille und Antibiotika. Wie oft habe ich mitbekommen, dass Freundinnen einfach nicht darauf hingewiesen wurden, dass bestimmte Antibiotika die Wirkung der Pille herabsetzen können“, erzählt Hinck. „Eigentlich ist das eine Standardfrage, die zu Anfang eines jeden Beratungsgesprächs kommen muss: Welche Medikamente nehmen Sie sonst noch?“ Viel zu selten ist das aber tatsächlich der Fall. Die kleinen Aufkleber sollen nicht nur den Patienten helfen. Sie sollen auch die Apothekern auffordern, ihre Rolle als Beratungsinstanz deutlicher auszuleben. Nun stellt sich vielleicht die Frage, ob es nicht eher Aufgabe des Arztes sein sollte, für den jeweiligen Patienten relevante Wechselwirkungen und Nebenwirkungen hervorzuheben. Diese Aufgabenüberschneidung beobachtet Kerstin Hinck kritisch. „Nicht umsonst wurden der Beruf des Apothekers und der des Arztes voneinander getrennt.“ Ein Arzt wisse bei Weitem nicht so viel über die Wirkung verschiedener Arzneistoffe wie ein PTA oder Apotheker. Zudem sei die Medikamentenberatung für einen Arzt herausfordernd, eine eventuelle Fortbildungen sehr zeitintensiv, sagt Hinck.
Früher einmal zeichnete sich der Beruf des Apothekers dadurch aus, dass er individuell Salben zusammenmischen oder Pillen herstellen musste. „Durch die großen Pharmaunternehmen wurde die Apotheke immer mehr zu einer Art Lagerraum für Massenprodukte.“ Schon in den ersten Berufsjahren stellte Hinck fest, dass sich Apotheken nicht so recht trauen, mit ihrem Wissen und ihren Ressourcen selbstbewusst aufzutreten und sich zu vermarkten. „Dabei wäre das in der heutigen Zeit so wichtig: sich durch den Beratungsservice auf dem etwas homogenen Apothekenmarkt zu positionieren. Vieles an Know-How geht einfach verloren, weil die Kunden sich gar nicht so richtig im Klaren sind, wie viel Fachwissen da vor ihnen steht.“ Die Sticker sollen dabei eine kleine Hilfestellung sein. Viele Apotheken nutzen das Angebot bereits. Die Techniker Krankenkasse versendet in diesen Tagen Probier-Blöcke an alle Apotheken in Deutschland, um auf die Sticker aufmerksam zu machen. Nach viel Arbeit und schlaflosen Nächten im ersten Jahr der Selbstständigkeit ist Hincks Bilanz eigentlich ganz positiv: „Ich habe zwar manchmal noch Zweifel und denke mir, dass ich doch lieber alles an den Nagel hänge und zurück in die Pharmaindustrie gehe, aber eigentlich ist das Feedback viel zu gut, als dass ich das jetzt noch machen könnte.“ Als nächstes steht ein Umzug in ein größeres Büro an. Die geteilten Büroräume der Start-Up-Szene sind mittlerweile etwas zu klein. Auch ein weiterer Mitarbeiter ist angedacht. Und Oma? Die genießt mit ihren 94 Jahren mittlerweile ihr gut umsorgtes Leben im Altenheim. „Schade, ich war etwas zu spät, sonst hätte ich ihr die Einnahmeerinnerungen gerne eigenhändig auf die Tablettendosen geklebt.“