Ärzte widmen dem HbA1c viel Aufmerksamkeit, da niedrige Werte einen gut eingestellten Diabetes signalisieren. Kritiker stellen den Laborwert jedoch in Frage und halten harte klinische Endpunkte für relevanter. Wird uns der HbA1c bald verlassen?
Bei der optimalen Versorgung von Diabetikern gilt es, Entgleisungen des Blutzuckerspiegels möglichst zu vermeiden, Folgeschäden zu minimieren und eine gute Lebensqualität zu sichern. Die langfristige Kontrolle des Blutzuckerspiegels wird bereits seit Jahrzehnten über den HbA1c-Wert verfolgt, der Hinweise auf den mittleren Glukosespiegel in den vergangenen zwei bis drei Monaten liefert. Es werden jedoch Stimmen laut, die den „glukozentrischen“ Ansatz in Frage stellen und folgende klinische Endpunkte für wichtiger halten: Hypo-, Hyperglykämien, Sehstörungen, Symptome einer peripheren oder autonomen Neuropathie, Ulzerationen der unteren Extremitäten, Nierenfunktionsstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die Lebensqualität.
Die Verwendung des HbA1c für das Diabetes-Monitoring resultiert aus großen klinischen Studien vorwiegend mit Typ-1-Diabetikern, in denen Zusammenhänge zwischen dem HbA1c und Albuminurie, Laser-Netzhautbehandlungen oder Nervenleitungsstörungen gezeigt wurden, die als sogenannte Surrogatparameter mikrovaskuläre Schäden andeuten. Heute gibt es wesentlich mehr Typ-2-Diabetiker, und Kritiker bemängeln, dass Ergebnisse von Typ-1-Diabetikern nicht ohne weiteres auf sie übertragen werden können, weil beiden Erkrankungen unterschiedliche Pathomechanismen zugrunde liegen.
In einer Übersichtsarbeit, die die Auswirkungen einer straffen bzw. weniger konsequenten Blutzuckerkontrolle bei Typ-2-Diabetikern in klinischen Studien zwischen 2006 und 2015 näher betrachtet, wurde eine Diskrepanz zwischen den Forschungsergebnissen und den Grundsatzerklärungen über den Wert einer engen Blutzuckerkontrolle zur Verringerung von mikro- und makrovaskulären Komplikationen festgestellt: In der Metaanalyse zeigte sich kein signifikanter Einfluss einer engen Blutzuckerkontrolle auf das Risiko einer Erkrankung an Nieren- oder Herz-Kreislauf-System (mit Ausnahme des nicht-tödlichen Myokardinfarkts), Blindheit, Neuropathie oder Gesamtmortalität. Trotzdem wurde der Nutzen in 77 bis 100 Prozent der veröffentlichten Aussagen und 95 Prozent der Leitlinien eindeutig befürwortet.
In klinischen Studien wird am HbA1c-Wert der Effekt neu entwickelter Medikamente getestet, und alle gängigen Leitlinien nennen ihn als wesentliches Kriterium für die Erfolgskontrolle der antidiabetischen Therapie. Bei Menschen mit Typ-2-Diabetes können zu ehrgeizige HbA1c-Ziele jedoch Polypharmazie und den Gebrauch von Insulin erforderlich machen, was wiederum die Gefahr von Hypoglykämien sowie Kosten und einen hohen Aufwand für die Patienten mit sich bringt. Zudem werden größere akute Blutzucker-Schwankungen durch den HbA1c nicht sicher erkannt.
Um solche Blutzucker-Schwankungen zu erfassen, eignen sich kontinuierliche Glukosemessungen (CGM), durch die die „Time in range“ (TiR) ermittelt werden kann, also der Prozentsatz der gesamten Zeit, zu dem ein normaler Blutzuckerspiegel vorlag. Prof. Dr. Lutz Heinemann, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft sagt: „Für mich sind das zwei Seiten derselben Medaille. Man versucht, die Glukosekontrolle im Körper mit verschiedenen Messmethoden zu beschreiben, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Mit dem HbA1c kann man Hypoglykämien nicht beobachten, das geht über den TiR besser.“
In einer Stellungnahme kommt die Arbeitsgemeinschaft zu dem Schluss: „Der Therapeut könnte […] bei Menschen mit Typ-2-Diabetes mit CGM wertvolle Hinweise über die einzuschlagende Therapie und über mögliche Eskalations- und Deeskalationstrategien bekommen. Ein routinemäßiger Einsatz von CGM-Systemen und damit auch TiR ist jedoch bei Typ 2-Diabetes-Patienten ohne Insulintherapie derzeit weder vorgesehen noch hinreichend durch Evidenz gedeckt.“
Eine Reihe von klinischen Studien mit Fokus auf kardiovaskuläre Endpunkte wurden durch den Insulin-Sensitizer Rosiglitazon losgetreten, der zwar den Blutzuckerspiegel senkte, jedoch das Risiko für Flüssigkeitsretention und Herzinsuffizienz erhöhte und deshalb wieder aus dem Verkehr gezogen wurde. Um solche Risiken fortan besser abwägen zu können, wurden für Diabetesmedikamente seit 2008 kardiovaskuläre Endpunkte in klinischen Studien von der FDA gefordert.
Während zunächst Skepsis vorherrschte und der Mehraufwand beäugt wurde, ist man heute froh, das Studiendesign entsprechend geändert zu haben, denn es zeigte sich, dass – unabhängig von der Verringerung des HbA1c-Spiegels – mit SGLT-2-Inhibitoren und GLP-1-Rezeptoragonisten erstaunliche Verbesserungen bei kardiovaskulären und nierenbezogenen Ergebnissen eintraten: Diese Wirkstoffe reduzierten die wichtigsten mikro- und makrovaskulären Ereignisse und Todesfälle unabhängig von der Blutzuckerkontrolle.
In einer Pressemeldung der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie wurde kürzlich die CREDENCE-Studie als Sensation bezeichnet: Sie wurde vorzeitig abgebrochen, „weil sich bereits vor dem geplanten Studienende eine signifikante Überlegenheit des Prüfmedikaments abzeichnete. Sie ist somit nicht nur eine der wenigen nephrologischen Studien der letzten Dekaden, die positiv ausfielen, sie gibt darüber hinaus Evidenz dafür, dass SGLT2-Hemmer das Fortschreiten der chronischen Nierenkrankheit […] zusätzlich zur Standardtherapie mit RAAS-Inhibitoren wirksam aufhalten.“
Internationale Leitlinien für die klinische Praxis berücksichtigen mittlerweile die nicht-glykämischen Effekte dieser Medikamente und empfehlen ihre Verwendung für Menschen mit entsprechenden Risiken.
Da sich in diesen Studien die HbA1c-Spiegel im Vergleich zu den Therapie-Kontrollgruppen nur minimal unterschieden, wurden die Effekte bei den anderen Studienendpunkten eher auf weitere Wirkungen der Medikamente zurückgeführt als auf den vermuteten Nutzen des verringerten HbA1c-Spiegels – zahlreiche Wissenschaftler arbeiten an der Klärung der Wirkmechanismen.
Heinemann erläutert: „Der HbA1c allein ist es offenbar nicht. Wenn man die Variabilität der Glukoseschwankungen reduziert, die über die TiR gemessen werden kann, scheint dies mehr auszumachen, als den mittleren Wert herunterzufahren, der über den HbA1c bestimmt wird. Bei ein und demselben HbA1c-Wert können die dahinterliegenden Schwankungen sehr unterschiedlich sein.“
Böse Zungen fragen nun: „Wenn der HbA1c-Spiegel die makrovaskulären und mikrovaskulären Vorteile einer Glukoseabsenkungstherapie nicht vollständig erfasst, warum sollte man sich weiterhin auf diese Maßnahme als primären Marker für die Qualität der Diabetesversorgung verlassen?“
Ältere Wirkstoffe wie Metformin oder Sulfonylharnstoffe, deren Zulassungsstudien schon lange zurückliegen, wurden nicht oder nur „nebenbei“ im Hinblick auf kardiovaskuläre Effekte getestet, und auch für Insulin fehlt bislang Evidenz, dass es sich positiv auf die Gesundheit des Herz-Kreislaufsystems auswirkt.
Deshalb erscheint es sinnvoll, die Behandlung nicht nur auf den Glukosespiegel, sondern auch auf bestimmte Komplikationen und Risiken abzustimmen: Patienten mit einem hohen Risiko oder bestehenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen können von der Behandlung mit Arzneimitteln wie Empagliflozin oder Liraglutid profitieren, die dieses Risiko senken. Die Festlegung eines individualisierten Blutzuckerziels ohne Berücksichtigung der Art und Anzahl der Medikamente, die zur Erreichung dieses Ziels erforderlich sind, ist laut Lipska und Krumholz mit den aktuellen Erkenntnissen nicht mehr vereinbar.
Rodriguez-Gutierrez und McCoy sagen: „Alle Beteiligten sollten sich auf das konzentrieren, was für die Menschen mit Diabetes wirklich wichtig ist – die Verbesserung ihres Lebens und nicht die Verbesserung ihrer Laborwerte.“ Sie halten es für wichtig, Kliniker zu einer patientenzentrierten Versorgung zu ermutigen, die nicht durch den HbA1c-Wert eingeschränkt wird, sondern das Hauptaugenmerk auf die von Patienten und ihren Betreuern geschilderten Symptome und Bedürfnisse richtet.
Auch Heinemann ist der Meinung: „Zahlengläubigkeit allein bringt es nicht, da muss ein Gesamtpaket her. Es gibt eine gewisse Korrelation zwischen einem niedrigen HbA1c und dem Auftreten von Hypoglykämien. In diesem Zusammenhang ist eine gute Schulung der Patienten sehr wichtig. Die Fixierung auf den HbA1c allein, ohne den Patienten die erforderlichen Hilfsmittel mit auf den Weg zu geben, ist nicht hilfreich.“ Trotzdem liefert der HbA1c wichtige Hinweise für die Verlaufskontrolle eines Diabetes. Auch wenn zunehmend kontinuierliche Messsysteme eingesetzt werden, wird er Ärzten und Diabetikern als wertvoller Parameter erhalten bleiben.
Artikel von Karen ZoufalBildquelle: Alden Chadwick, flickr