Ist es eine Spinnerei oder eine geniale Idee? Im Sprechzimmer des Diabetologen Hauke Groth steht ein Laufband. Im Gehen erledigt er seine Arbeit. Auch seine Patienten müssen laufen – während der Sprechstunde.
Wo vorher ein Schreibtisch war, steht jetzt ein Laufband: Hauke Groth hat sein Sprechzimmer ganz der Bewegung gewidmet. Seit Mitte Januar bietet der Internist und Diabetologe eine Sprechstunde im Gehen an. Dabei gehen seine Patienten auf einem Laufband, während Groth ihnen gegenüber steht, zuhört, fragt, Notizen macht. „Der Blickkontakt beim Patientengespräch ist sehr wichtig“, betont Groth. Das Tempo bestimmen die Läufer dabei selbst, denn das Band wird nur durch Körperkraft angetrieben und braucht keinen Motor. „Dadurch ergibt sich praktisch null Geräuschkulisse. Ich kann vor dem Laufband stehen und darüber schauen, dabei mit den Patienten reden.“
Diabetologe Hauke Groth mit einem Patienten. Bildquelle: Groth
Das langfristige Ziel des Diabetologen: Wenn möglich, keine Insulintherapie für seine Patienten mehr. „Schon 15 Minuten Gehen verringern den Blutzucker um 20 mg/dl. Das ist oft eine Überraschung und Motivation für die Patienten“, so Groth. Orale und weitere Therapien von Diabetes seien teuer und würden zu oft einfach nur verordnet, ohne den Patienten einzubeziehen, kritisiert der Rellinger. Die Bedeutsamkeit der regelmäßigen Bewegung gehe dabei zu oft unter. „Gehen während der Sprechstunde allein bringt natürlich nichts, aber das kann ein Anreiz sein, ein erster Schritt in die Eigenverantwortlichkeit“, sagt er.
Die Idee zur Sprechstunde im Gehen hatte Groth, als er das Laufband auf einer Messe entdeckte. „Ich wollte meinen Patienten wirklich bewusst machen, wie wichtig Sport ist. Der Arzt ist dabei Vorbild“, sagt Groth. Das Band nutzt er deswegen auch selbst. Arztbriefe und DMP-Dokumentationen mache er praktisch nur noch im Gehen, so der Diabetologe. „Ich bin ganz ehrlich: Ich hasse DMP. Da läuft man dann auch mal schneller und kann so die Gereiztheit ausgleichen“, erzählt Groth und lacht. Seine Invenstition von über 4.000 Euro scheint sich gelohnt zu haben.
Während seines Arbeitsalltags wechselt er zwischen Gehen und Stehen – Sitzen versucht er, wenn möglich, zu vermeiden. „Man hat lange geglaubt, im Stehen Arbeiten sei besser als im Sitzen. Aber inzwischen weiß man, dass die Anregung der Blutzirkulation das Wichtigste ist“, erklärt Groth. Langes Stehen sei daher genauso schädlich wie langes Sitzen. Das stationäre Laufband könne hier eine Lösung auch für andere Arbeitsbereiche sein, so der Rellinger weiter.
Hauke Groth bei der Arbeit. Bildquelle: Groth
Das sieht Diabetologe Dr. Dirk Hochlenert mit gemischten Gefühlen: „Als ich von der Idee gehört habe, fand ich das sehr gut. In unserer arbeitsverdichteten Zeit können viele Menschen keinen Sport treiben, weil sie nach der Arbeit zu müde sind. Briefe schreiben im Gehen wäre eine schöne Möglichkeit.“ Allerdings sei es dann auch nicht mehr weit zum Menschen im Hamsterrad. „Es passt in unsere Zeit, auch das noch zu verdichten, also gleichzeitig Sachbearbeiter zu sein und die Beine zu bewegen, was ich menschenfeindlich finde.“
Insgesamt 50 von Groths Patienten haben die Sprechstunde im Gehen inzwischen wahrgenommen. Das Ergebnis einer Befragung ist eindeutig: Nur vier der Tester gaben an, sich nicht konzentrieren zu können und zur klassischen Sprechstunde im Sitzen zurückkehren zu wollen. Dagegen stehen 46 Patienten, die von dem Laufband begeistert sind und fast nur noch die neue Form der Sprechstunde nutzen. So das Ergebnis einer kleinen Studie, die Groth selbst durchgeführt hat. Das freut Groth, aber er stellt auch klar: „Niemand wird hier zum Laufen gezwungen.“
Einer der Läufer ist Henning Deutschmann. Der 53-jährige Gärtner arbeitet in einer Baumschule und bewegt sich auch außerhalb der Sprechstunde im Gehen regelmäßig. Daheim hat er sogar eine Rudermaschine. „Ich gebe zu, das mache ich oft nur sporadisch“, räumt Deutschmann ein. „Aber der Anfang ist schon der halbe Weg und diesen Push gibt das Laufband.“ Irritiert war er anfangs trotzdem. „Als ich das Ding in der Praxis zum ersten Mal gesehen hab, frag’ ich den Herrn Groth: ‚Was ist denn das für ein Gerät?’ Er hat mir das dann erklärt und ich hab’s sofort ausprobieren wollen.“
Für den Gärtner ist vor allem der Anreiz wichtig, den die Sprechstunde im Gehen und Groths offene Art schaffen. An den ersten Versuchen mit dem Laufband habe er sich daher gerne beteiligt: „Welcher Arzt fragt überhaupt den Patienten, was er von etwas hält?“ Und Deutschmann weiß, dass der Diabetologe das Laufband auch selbst benutzt. „Auch der Arzt kocht nur mit Wasser. Das sieht man dann. Und in der Sprechstunde kann man auch nicht kommen mit ‚Mir fehlt einfach die Zeit, ich komm nicht dazu.’ Wenn man bei ihm ist, macht man’s halt und es bringt jedes Mal Spaß.“
Der Spaß ist ein wichtiger Faktor für den 53-Jährigen. Man dürfe das Ganze bloß nicht zu verbissen betreiben, betont er. Und zu viel Sport sei ja auch wieder nicht gesund, wie auch Groth ihn ermahnt habe. „Dieses Laufband ist eins von vielen Puzzlesteinchen der Betreuung, aber vielleicht das Wichtigste und Interessanteste. Auch wenn es sicher nicht jedermanns Sache ist“, resümiert Deutschmann. Die regelmäßige Erinnerung an Bewegung sei für ihn aber genau das richtige Konzept.
Seine Akte gibt ihm recht: 2004 wurde erstmals Diabetes bei Deutschmann diagnostiziert. Im Dezember 2018 konnte die Insulingabe wegen guter Werte beendet werden, sein Gewicht reduzierte der Gärtner um fast zehn Kilo. Sein hbA1c-Wert liegt seit Februar 2019 bei 7 Prozent. Und auch zu seinem Arzt gehe er inzwischen sehr gerne: „Die Sprechstunde vorher war so trocken! Man war froh, wenn man wieder raus war. Jetzt ist es genau umgekehrt und komplett anders.“
Auch Thomas Gundlach gehört zu den Patienten, die das Laufband begeistert hat. Regelmäßig nutzt der 57-jährige Busfahrer die Sprechstunde im Gehen. „Das sollten wirklich mehr Ärzte anbieten.“ Denn in seinem Alltag spielt Sport bisher keine Rolle.
Der Busfahrer steht morgens um 2:30 Uhr auf, fährt mit dem Auto zum Busparkplatz, fährt seine Schicht und kehrt mit dem Auto gegen 12:30 Uhr nach Hause zurück. Danach ist er erschöpft und bleibt häuptsächlich auf der Couch. Nach dem Abendessen geht er direkt ins Bett – der Wecker klingelt ja wieder um 2:30 Uhr. Gundlach ist seit 2008 Typ-2-Diabetiker. Aktuell wird er mit Dulaglutid, Dapagliflozin und ICT therapiert. Mit der Insulintherapie fühlt er sich unwohl, er beklagte sich bei Groth über Übelkeit und Fressattacken. Am liebsten würde er nur OAD nehmen – und sich wieder mehr bewegen. Die Sprechstunde im Gehen habe ihn aufgeweckt. Die Frage ist nur, ob sie ihn dauerhaft zu mehr Bewegung motivieren wird.
Bei Groth hat das Laufband den Alltag stark verändert. „Ich bin sowieso schon immer mit dem Fahrrad zu Hausbesuchen gefahren, wenn es von der Distanz her ging. Darauf achte ich jetzt noch ein bisschen mehr.“ Weil der Diabetologe direkt über seiner Praxis wohnt, kam die Bewegung vorher trotzdem mal zu kurz. „Den Ausgleich dafür hole ich mir jetzt auf dem Laufband“, sagt Groth.
Dr. Hochlenert sieht das vorsichtig optimistisch: „Für mich war das Konzept der ‚Active Workstation‘ neu. Bei welchen Arbeiten man sowas gut machen kann, ob bewegungsunwillige Menschen damit an Bewegung herangeführt werden oder nur die dazu kommen, die es ohnehin schon machen? Es ist es auf jeden Fall wert, das zu vertiefen“, sagt der Diabetologe. Dafür müsste es natürlich erst mehr solcher Geräte in deutschen Praxen geben.
Wie seht ihr das? Kann ein Laufband Ärzte und Patienten bei der regelmäßigen Bewegung unterstützen?
Bildquelle: Clique Images, unsplash