Viele Ärzte finden die Vorstellung, auf dem Land zu arbeiten, gruselig. Ich bin Landärztin und ich bin es überaus gerne. Was aber, wenn man bleiben will und es trotzdem nicht kann?
Eigentlich lief ja alles gut – als angestellte Fachärztin in der Landarztpraxis mit einem tollen Chef, einem netten Team. Mein Mann ist als Ingenieur in Teilzeit tätig und so konnten wir uns immer irgendwie so organisieren, dass wir arbeiten, aber auch Zeit für unsere Kinder haben. Klar, das erforderte Planung und auch sehr kurzfristige Flexibilität, wenn z.B. ein Kind krank wurde. Aber dazu kam es eher selten.
Tja, und dann kam die Nachricht, dass die Firma meines Mannes geschlossen wird. Jetzt stehen der Herr Ingenieur und ich vor einem Problem.
Ingenieursstellen gibt es ja leider nicht häufig auf dem Land. Auch als wir hier hergezogen sind, war die Ingenieursstelle der entscheidende Faktor: Wo kann mein Mann arbeiten? – denn ich als Allgemeinmedizinerin finde überall was. So sind wir in unserem schönen Dorf gelandet – nah genug an der Stadt für ihn, aber so, dass ich hier auf dem Land ärztlich tätig sein kann. Und ganz ehrlich, ich bin gern hier. Da ich eine Großstadtpflanze bin und mein Mann selbst vom Land kommt, hat er mir damals die finale Entscheidung überlassen. Ich habe es nie bereut. Obwohl hier natürlich auch nicht alles nur eitel Sonnenschein ist.
Aber wie soll es jetzt weitergehen? Ingenieur ist nicht gleich Ingenieur. Arzt ist ja auch nicht gleich Arzt. Und genau, wie sich ein Kinderarzt zum Allgemeinmediziner weiterbilden kann, kann sich auch ein Ingenieur aus einem Fachbereich in einen anderen einarbeiten. Aber dafür braucht man einen Arbeitgeber, der einen haben will. Da wir uns aber um die Kinderbetreuung kümmern müssen, bräuchte mein Mann zu allem Überfluss eigentlich wieder eine Teilzeitstelle. Und das ist bei Ingenieuren gefühlt einfach nicht vorgesehen. Das war schon mit seinem alten Arbeitgeber ein schwieriges Thema, aber da haben wir das irgendwie hinbekommen. Aber ob wir nochmal dieses Glück haben, ist fraglich.
Warum für uns seine Teilzeit-Stelle so extrem wichtig ist? Das liegt an mir: Mein Chef möchte in den nächsten 2–3 Jahren in Rente gehen. Spätestens dann stellt sich für mich die große Frage: Praxis übernehmen oder andere Anstellung suchen? Wer stellt hier auf dem Land überhaupt noch an? Wir haben mehrere Kollegen oberhalb der 60 Jahre. Alle suchen Nachfolger, aber keine neuen Angestellten.
Wenn ich aber eine Praxis übernehme, bin ich selbstständig, was ja die meisten aus den Worten „selbst“ und „ständig“ zusammensetzen. Und wenn ich sehe, wieviel mein Chef oft noch „mal eben“ zusätzlich macht, weiß ich nicht, wie ich das schaffen soll, wenn ich meine Kinder (und meinen Partner) auch ab und zu mal in wachem Zustand sehen will und nicht nur schlafend im Bett. Dazu kommt die Dienstbelastung.
Auf dem Land gibt es wenig Ärzte. Es müssen aber dieselben 365 Tage aufgeteilt werden wie in der Stadt – nur auf weniger Schultern. Also haben wir ungefähr das Doppelte bis Dreifache der normalen Dienste. Zusätzlich zur normalen Praxis, die bei uns regelhaft ihre Öffnungszeiten sprengt, weil wir die Menge an Patienten in der „regulären“ Sprechzeit nicht alle versorgt bekommen.
Ein nicht zu vernachlässigender Faktor ist die Fahrzeit. Wie schon mal erwähnt, arbeite ich noch ein paar Dörfer „tiefer“ im Land als ich wohne. Mit der im jahr 2012 abgeschafften Residenzpflicht hätte ich aufgrund der „inakzeptablen Anfahrtszeit“ dort gar keine Praxis übernehmen dürfen. Aber selbst wenn ich jetzt weiter weg wohnen darf, muss ich trotzdem montags, dienstags und donnerstags von 8–19 Uhr für meine Patienten zur Verfügung stehen, an den anderen Werktagen bis 13 Uhr.
Da gerade die abendlichen Zeiten sehr beliebt sind, wäre also eine Mittagspause sinnvoll, bedeutet aber doppelte Anfahrtszeit, also Zeit, in der ich weder Geld verdiene noch Zeit mit meiner Familie habe.
Wie man also sieht, ist mein Hauptproblem der Mangel an Zeit, speziell Zeit für die Versorgung der Kinder. Wenn ich mich um meine Praxis kümmern soll und muss, müsste mein Mann einspringen. Aber wie soll das mit einer Vollzeitstelle in der Stadt funktionieren? Auch das bedeutet ja eine lange Anfahrtszeit. Selbst wenn er „nur“ die normalen 40 Stunden arbeitet, heißt das, dass wir schnell eine riesige Betreuungslücke haben. Von Krankheiten etc. mal ganz zu schweigen.
Option 1: Der Sechser im Lotto. Wir finden wieder einen Arbeitgeber, der ihm Teilzeit erlaubt und auch kein Problem damit hat, wenn er mal (selten!) zu Hause bleiben muss, weil ein Kind krank ist. Das ist mein Traum. Nach Durchsicht der ersten Stellenanzeigen stelle ich fest: das ist wohl ein frommer Wunsch.
Natürlich sind sich alle einig, dass Landärzte gebraucht werden und unterstützt werden sollten. Aber einen Arbeitgeber zu finden, der dann den Partner einer Ärztin einstellt und weiß, dass derjenige eher mal einspringen muss, wenn es um die Kinder geht, ist schon was ganz anderes.
Ich fürchte, das ist ähnlich wie mit der freiwilligen Feuerwehr – alle sind sich einig, dass man dringend freiwillige Feuerwehrleute braucht. Aber es will kaum einer machen und als Arbeitnehmer sind die auch nicht gerade beliebt.
Option 2: Wir orientieren uns daran, wo mein Mann Arbeit findet und ich plane mich als angestellte Ärztin „außenrum“. Und wenn es hier auf dem Land nicht geht, orientiere ich mich halt zur Stadt. Da werden auch Hausärzte gesucht.
Oder ich werde Arbeitsmedizinerin. Dann muss ich gar keine Dienste mehr machen und habe gut planbare Arbeitszeiten. Ich kenne mehrere Kollegen und Kolleginnen, die diesen Weg gegangen sind. Das kann ich gut nachvollziehen, weil es eine Menge Druck rausnimmt. Aber eigentlich gefällt mir das Landarzt-Dasein. Und ich sehe, wie sehr ich gebraucht werde.
Option 3: Ich mache mich selbstständig – und stelle meinen Mann an. Als Rückenfreihalter, Technik-Helfer oder Abrechnungsmitarbeiter zum Beispiel. Von dem Modell habe ich inzwischen auch schon gehört. Nach allem, was ich in den letzten Jahren von Patienten mit dieser Rollenaufteilung gehört habe, sprich: Sie als Hauptverdiener und er als Rückenfreihalter, braucht mein Mann dann ein dickes Fell für all die Sprüche, Vorurteile und ungläubigen Rückfragen, die dann auf ihn einprasseln.
Mein Mann hat schon signalisiert, dass er das trotzdem machen würde (Danke!), aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das ihm und unserer Familie zumuten will. Gemeinsam arbeiten, davon einer selbstständig als Chef, der andere angestellt, ist auch nicht so ohne für die Beziehung.
Option 4: Ich fürchte, der von der Heute-Show vorgeschlagene „Teeladen für die Arztgattin“ auch nicht das richtige für meinen Mann ist. Andererseits wäre der riesige Vorteil die Planbarkeit, so dass wir unsere Arbeitszeiten selbst festlegen könnten. Und wenn mal ein Kind krank ist, kann man das einfacher abfangen. Das ist definitiv auch nicht zu unterschätzen.
Das Interessante ist, dass ich unterschiedliche Varianten meines Problems bei anderen Kolleginnen ja auch immer wieder mitbekomme. Die meisten von denen haben sich bereits entschieden: Für die geregelten Arbeitszeiten und die Familie und damit gegen die Selbständigkeit und vor allem gegen das Land. Die Vorteile der Stadt überwiegen für die meisten einfach.
Erst letzte Woche meinte eine Bekannte (ebenfalls fertige Allgemeinmedizinerin auf dem Land, zwei Kindergartenkinder), dass sie überlegt, sich doch Richtung Stadt zu orientieren, weil sie keine Ahnung hat, wie sie das mit ihren Kindern hinkriegen soll, speziell mit den Diensten.
Landärzte: Direkt sich scheiden und sterilisieren lassen?
Ja, das Problem ist nicht neu. Aber wir scheinen der Lösung auch nicht wirklich näher gekommen zu sein. Schon vor sieben Jahren formulierte es ein Kollege so:
„Wenn sich ein junger Arzt oder eine junge Ärztin wirklich berufen fühlen, auf dem Land zu praktizieren und sich unter den heutigen Bedingungen niederlassen möchte, so kann er oder sie sich von vornherein scheiden und sterilisieren lassen.“
Das ist natürlich provokant, aber es trifft sehr gut das Gefühl, dass man als Landarzt so hat.
Deswegen auch nochmal ganz klar: Das Problem betrifft männliche Landärzte in spe genauso wie uns Frauen. Nur kenne ich kaum noch männliche, junge Allgemeinmediziner. Die meisten Weiterbildungsassistenten sind weiblich. Die Geschlechterfrage kommt da dann vielleicht noch oben drauf, aber das Grundproblem „Wie findet mein Partner bzw. meine Partnerin einen Job?“ haben männliche Landärzte ganz genauso.
Und was wäre jetzt, wenn wir auch so eine „Landarzt-Quote“ bekommen wie in NRW? Leute sollen sich für 10 Jahre (!) nach dem Studium für's Land verpflichten und bekommen dafür einen Studienplatz. Schlägt man eine andere Fachrichtung als die Allgemeinmedizin ein oder geht man doch nicht auf's Land, wird eine Strafzahlung fällig. Was sicher auch viele Studenten abschreckt, weil sie sich noch vor dem Studium nicht auf eine Fachrichtung festlegen wollen. Erst vor wenigen Tagen, haben sich die Fachschaften der sächsischen Medizinstudenten bei einem Treffen mit Gesundheitsministerin Barbara Klepsch (CDU) vehement gegen eine mögliche Landarztquote in Sachsen ausgesprochen. Es gibt aber noch ein kleines „Aber“ im dazugehörigen Gesetz:
„Das Land kann auf Antrag auf die Strafzahlung ganz, teilweise oder zeitweise verzichten, wenn ansonsten eine besondere Härte eintreten würde. Eine besondere Härte liegt vor, wenn in der Person liegende besondere soziale, gesundheitliche oder familiäre Gründe die Erfüllung der Verpflichtung unzumutbar erscheinen lassen.“
Was ist denn dann, wenn der Partner keinen Job auf dem Land findet? Und man gemeinsame Kinder hat und diese dann gegebenfalls mit dem Partner in der Stadt bleiben müssen, weil dort die Infrastruktur besser ist für die Betreuung. Dann sieht man seine Kinder nur noch selten – an den Nicht-Dienstwochenenden. Ist das „besondere Härte“? Ich schätze mal, diese Frage wird noch niemand beantworten können. Ich glaube aber auch, dass es leider nicht lang dauern wird, bis ein Gericht dies klären muss.
So oder so, mir helfen solche Regelungen für die Zukunft gar nichts. Weder für mich jetzt noch für unsere aktuelle Unterversorgung. Bis nämlich die ersten Quoten-Ärzte uns relevant entlasten könnten, gehen noch viele Jahre ins Land.
Wir werden also erstmal weiter grübeln und eine Lösung suchen müssen.
Und obwohl diese Entscheidung so viele Leute betrifft, fühlt man sich doch erschreckend allein dabei.
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