Es gibt Patientenfälle, da hilft keine Leitlinie und kein Schema. Ein Dachdecker mit therapiefraktärem Schluckauf, eine Frau mit unerklärlichen Rückenschmerzen, MRSA in der Nase. Was tun, wenn nichts mehr hilft? Sich abseits der Leitlinie bewegen.
„Ich kann nichts mehr für Sie tun“ – dieser Satz ist furchtbar. Ich bin immer wieder erschrocken, wie oft Patienten uns von diesem Satz erzählen. Ich rede dabei nicht nur von Patienten mit bösartigen Erkrankungen kurz vor ihrem Tod. Sondern ganz oft kriegen Patienten diesen Satz zu hören, deren Leidensdruck riesengroß ist und die damit das Gefühl haben, mit ihren Sorgen allein gelassen zu werden.
Ärzte sind Menschen. Nicht mehr und nicht weniger. Können wir alles heilen? Nein. Aber haben wir deswegen das Recht, Menschen mit ihrem Leid allein zu lassen? Ist „nicht heilen können“ gleichbedeutend mit „nicht helfen können“? Meiner Meinung nach ist es das nicht.
Was können wir tun? Bei vielen Patienten ist es vor allem wichtig, Trost zu spenden. Ihnen zu helfen, mit der Erkrankung klar zu kommen. Mit ihnen Strategien zu überlegen, wie man mit den Symptomen besser umgehen kann. Das kann in therapeutischen Gesprächen in der Hausarztpraxis passieren oder gegebenenfalls auch durch eine Überweisung zur Psychotherapie.
Gerade bei älteren Patienten mit orthopädischen Problemen, die sich trotz aller Endoprothetik nicht lösen lassen, sind diese hausärztlichen Gespräche unheimlich wichtig. Manchmal geht es auch um ein tieferliegendes Problem wie die Angst vor dem Älter werden. Vor Pflegebedürftigkeit. Diese Patieten möchten einen Weg finden, mit ihren Problemen umzugehen. Und da können wir, auch als Ärzte, die noch deutlich jünger sind, helfen und gemeinsam nach Lösungen suchen.
Hilfe kann auch bedeuten, den Patienten im Falle einer terminalen Erkrankung bis zum Schluss zu begleiten – so, wie es der Narkosedoc in seinem tollen Blogbeitrag geschrieben hat.
Bei manchen Patienten habe ich die Erfahrung gemacht, dass es sinnvoll sein kann, begründet und zeitlich begrenzt von den Therapieempfehlungen abzuweichen. Ein relativ aktuelles Beispiel aus der Praxis: Eine junge Dame kommt zu mir. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs war sie bereits zweimal bei ärztlichen Kollegen gewesen wegen ihrer Rückenschmerzen. Da es keine Red-Flags gab, war sie den Leitlinien entsprechend für unspezifischen Kreuzschmerz behandelt worden.
Das Problem: NSAR waren faktisch wirkungslos, die Patientin war unruhig, die Schmerzen nicht klassisch durch Bewegung oder Druck reproduzierbar, sodass ich initial erstmal in Richtung Nierenkolik überlegte. Bauch-Ultraschall und U-Stix waren aber unauffällig, Labor ebenso. Trotz Eskalation der Schmerztherapie bis zu Tilidin ergänzend zu den NSAR hatte die Patientin weiter starke Schmerzen. Das Tilidin linderte den Schmerz kaum, sie wurde vor allem müde davon. Die Schmerzen waren so stark, dass sie sich sogar am Wochenende in der Notaufnahme vorstellte, weil sie einfach nicht mehr weiter wusste. Das dort durchgeführte Röntgen der Wirbelsäule ergab ebenfalls keinen wegweisenden Befund. Auch die Physiotherapie, die ich verordnet hatte, blieb wirkungslos. Sie schlief kaum noch, weil sie immer wieder Schmerzen hatte.
Aufgrund der Schmerzbeschreibung hatte ich auch mehrfach an einen Herpes zoster gedacht, aber im Verlauf zeigte sich kein kein Hautausschlag.
Was jetzt? Die Patientin litt sehr stark und war zuvor noch nie als besonders schmerzempfindlich aufgefallen, obwohl sie seit Jahren in unserer Praxis ist. Diagnostisch hatte ich alles durchgeführt außer einem MRT – und das bekam ich frühestens in drei Wochen. Die Patientin saß nun weinend vor Schmerz vor mir, halb schlafend vom Tilidin.
Das Einzige, was mir jetzt noch einfiel, war eine Neuralgie ohne Zoster. Das wäre eine Erklärung für das Nicht-Ansprechen auf die konventionellen Schmerzmittel, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was genau die Neuralgie verursachen sollte. Aber ich konnte die Patientin ja auch nicht weiterhin so leiden lassen. Also hab ich der Patientin meinen Gedankengang erklärt und mit ihr ausgemacht, dass wir einen Therapieversuch mit Gabapentin zusätzlich zu den NSAR machen. Begründet durch die Vorstellung, dass irgendein Interkostalnerv ihr diese Schmerzen bereiten könnte, auch wenn ich nicht wusste, warum.
Und es funktionierte: Es war so schön zu sehen, wie die Patientin unter der Gabe von nur 300 mg Gabapentin endlich mal wieder schmerzfrei war. Auch das Ausdosieren der NSAR lief problemlos und nach drei Wochen Schmerzfreiheit konnten wir das Gabapentin ebenfalls ausdosieren. Das durchgeführte MRT ergab keinen wegweisenden Befund, sodass ich schlichtweg nicht weiß, woher der Schmerz genau kam und warum das Gabapentin funktioniert hat. Wichtig ist für die Patientin nur, dass es funktioniert hat.
Über die Jahre sammelt man so einige Patienten, die mit ihren Beschwerden in keine Leitlinie und kein Schema passen. Da wären zum Beispiel:
Eigentlich müsste man eine Datenbank anlegen, in der man individuelle Heilversuche vermerkt, die dann durchgeführt wurden, wenn die evidenzbasierten Therapieversuche gescheitert sind.
Die meisten von uns sind doch Ärzte geworden, um zu helfen. Also sollten wir uns auch nicht hinter Fakten und Zahlen verstecken, sondern diese für den Patienten nutzen. Und wenn man keine Studien hat bzw. die etablierten Therapien nicht wirken, kann es sinnvoll sein, vom evidenzbasierten Weg abzuweichen und sich in den Randbereich zu bewegen, um dem Patienten zu helfen. Es sollten natürlich Einzelfälle bleiben und wie oben erwähnt zeitlich begrenzte Therapieversuche sein, aber ein „Das muss jetzt besser geworden sein, weil ich die entsprechende Leitlinie durchgearbeitet habe“ hilft niemanden.
Deshalb stimme ich auch nicht ganz mit den Aussagen in diesem DocCheck-Artikel über das Darm-Mikrobiom überein. Darin heißt es, dass es noch Jahre braucht, um die Erkenntnisse aus der Mikrobiomforschung für therapeutische Zwecke nutzen zu können.
Natürlich wäre es mir viel lieber, wenn wir die entsprechende Forschung schon ausgereift wäre. Aber damit ist, wie im Artikel erwähnt, in den nächsten Jahren nicht zu rechnen. Trotzdem können sich jetzt schon Anwendungen ergeben. Ich war verblüfft, als ich hörte, dass einer meiner Patienten sein Wissen über das Mikrobiom einfach selbst angewandt hat – und zwar mit Erfolg. Er hatte eine MRSA-Besiedlung der Nase, die trotz lege artis durchgeführter Behandlung mit Nasensalbe und entsprechenden Waschungen des ganzen Körpers immer wieder rezidivierte. Ich hatte ihm in einem anderen Zusammenhang von der Mikrobiom-Forschung erzählt. Und dass das Mikrobiom in den Fokus gerückt ist, nachdem man Clostridien mit anderen Mikroben aus Stuhltransplantationen bekämpft hatte. Der Patient schlussfolgerte, dass seine Nase neben der Antibiotikatherapie eine bakterielle Besiedlung brauchte, um den MRSA dauerhaft zu verdrängen. Er hat sich daraufhin einen probiotischen Naturjoghurt mit Lactobacillen in die Nase geschmiert parallel zur erneuten Eradikationstherapie und auch etwas darüber hinaus. Seitdem ist er MRSA-frei. Kein Rezidiv mehr. War das eine evidenzbasierte Therapie? Nein. Ich würde diese höchst eigentümliche Therapie meinen Patienten zwar nicht empfehlen. Aber trotzdem hat sie funktioniert.
Sollte man solche Ansätze auf Dauer studienmäßig absichern? Definitives Ja. Und natürlich weiß ich, dass es sich hier auch um einen Zufall gehandelt haben kann. Aber wenn der Patient leidet, ist es mein Job als Arzt an der Seite des Patienten mit ihm eine Lösung zu finden. Und nicht dozierend vor dem Patienten zu sitzen und ihm zu erklären, warum er diese Beschwerden so nicht haben kann oder wie es ihm laut Datenlage eigentlich gehen müsste. Und deshalb kann es nach sorgfältiger Abwägung der Nebenwirkungen durchaus sinnvoll sein, auch mal Therapieversuche abseits der Leitlinie zu starten.
Denn ich bin sicher: Bei allen Studien und bei aller Evidenz muss trotzdem der Patient im Fokus unseres Handels stehen. Und nicht die Studien, Bücher und Leitlinien. Das Wohl des Patienten ist ein höheres Gut ist als die Reinheit der Zahlen.
Bildquelle: zilupe, flickr